„Public Viewing“, Leichenschau der Mittelschicht?

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„Public Viewing“, Leichenschau der Mittelschicht?

Das neue Lied vonder Bringschuld der Bildung

Dasneudeutsche Wort „Public Viewing“ ist dem angloamerikanischen Sprachraum entlehnt und bedeutet nach wie vor, seinem Ursprung nach. “Leichenschau im Öffentlichen Raum“ vor der Bestattung einer Leiche.

Neudeutsch wird dieses Wort „Public Viewing“ im Sinne von “gesteigertes Erleben von Live- Großveranstaltungen aus dem Bereich Sport, Kultur, Politik im Öffentlichen Raum in Stadt. Land“, verwandt, ohne direkt dabei zu sein, dieses „Nicht dabei sein“ aber als gemeinsames Erlebnis des „Nicht unmittelbardabei Seins“ vor Großbildleinwänden auf öffentlichen Plätzen zu einem „mittelbaren Erlebnis des dabei seins“ mit und unter vielen zu machen..

Wenn Sie jetzt verstehen, was ich unverständlich meine.

Dazu später mehr.

Wir Deutschen zelebrieren dieses „Public Viewing“ vordergründig, bestens aufgelegt, hoch gestimmt, siehe während der Fußball-Weltmeisterschaft im Jahre 2006, in diesem Jahr 2010,auf keinen Fall als

„Leichenschau im Öffentliche Raum“

von irgendetwas, sei es eine verstorbene Person, eine Klasse, eine Schicht, ein gesellschaftlicher Zustand, sondern als gesteigertes Erleben von wahllos wie unmittelbarer empfundener Nachbarschaft mit vielen, die wir verbindlich wie unverbindlich kennen, unverbindlich nicht erkennen.

Und doch holt uns im wahrsten wie ursprünglichsten Sinne des angloamerikanischen Wortes

„Public Viewing“ “Leichenschau im Öffentlichen Raum“

vor der Bestattung einer Leiche, trotz aller und wg. aller neudeutschen Umdeutungsversuche womöglich doch hintergründig wieder ein.

Fragt sich nur. Wer ist da gestorben.

Welche Leiche pflegen wir in Deutschland öffentlich, unter hoch gestimmtenGalgenhumor, Hurra und Jubelrufen, vor deren Bestattung zu schauen?

Es kann seit der Einführung der Agenda 2010/Hartz IV im Jahre 2001 nur eine Deutung, ein Hinweis auf eine Leiche gegen, die Leiche des Mittelstandes, die wir öffentlich vor deren Bestattung staunend schauen, schauen wollen.

„Der Mittelstand ist tot“

„Es lebe der Mittelsstand als Leerstelle „Öffentlicher Raum“

Insofern bleibt der öffentliche Raum in unserer Demokratie im geradezu sakral heiligen Verständnisdes Begriffs durchHannah Arendt, wider Erwarten, erhalten.

Darüber kann bei Lichte betrachtet, auch unser ausgenommen robuster Sinn des oberflächlichen Auftretens bei “Public Viewing“ Veranstaltungen nicht hinwegtäuschen.

Auch wenn wir uns dabei mutig bis übermütig, vollmundig, ohne Berührungsangst, offen in Szene gesetzt, formlos, respektlos, haltlos einer Spirale der Niveauabsenkung im Namen der Verständigung im Stadtteil, in der Stadt, im Land, Kontinent, in der Welt ungehemmt wie ungeschützt überlassen, um ganz dem Leitfaden von Kurt Tucholsky völkerverständigend, auf ungeahnte, wie nie da gewesene Weise, nicht nur den Schneid abzukaufen, sondern ein Schnippchen zu schlagen:

“Wer so offen ist, kann nicht ganz dicht sein“.

Wir tun dieses nicht nur auf

„Public Viewing“ Veranstaltungen,

wie sonst nirgendwo, unaufhaltbar wie unumkehrbar als Erlebnis für einen guten Zweck, sondern, weil wir einen neuen Bildungsbegriff pflegen, um bestimmte Facetten, die unserer sozial- kulturellenBildung fehlen, an bestimmten Tagen selbsttätig über das

„Public Viewing“,

dem öffentlichen Raum zugewandt, eine Chance niedrigschwellig spielerisch segensreichen Nachhilfezu geben.

Anders als früher, ist Bildung heute im Zeitalter der Medien Vielfalt der Angebote und Präsenz keine Frage der Holschuld, sondern eine Frage der Bringschuld.

Früher waren insbesondere Bildungsbürger/innen über sich entsetzt, wenn sie einräumen mussten, dass sie den Literatur- Nobelpreisträger aus Frankreich, Albert Camus, mit algerischem Migrationshintergrund, nicht einmal namentlich kannten.

Heute ist das anders.

Wenn heutejemand, bildungsnah wie bildungsfern, auf die Frage

“Kennen Sie Albert Camus“

mit „Nein“

zu antworten genötigt ist, löst das bei dieser Person in keiner Weise einen Selbstärger über Bildungslücken mehr aus, sondern die Feststellung:

„Albert Camus hat es wohl nicht geschafft, mich zu erreichen. Wahrscheinlich war ich im Urlaub, als er im Stadtteil war.

Auch egal.

Jetzt bin ich ja da, meine Bildungslücke aufzufüllen.

Jetzt hat der Herr Albert Camus ja Gelegenheit, sich mir vorzustellen.

Wer ist Albert Camus?“


JP

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Geschrieben von

Joachim Petrick

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Joachim Petrick

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