Tillis Flucht aus dem Osten/Warthegau 1945

Klotilde Petrick Unter der Hinterlassenschaft unserer Mutter traute ich mich jetzt, nach ihrem Tod am 24 Juni 1999, mit bangem Herzen, diesen Bericht über ihre Flucht 1945 nachzulesen.

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Unsere Mutter, Klotilde Petrick, Ruf- und Kosename Tilli, am 8. Januar 1914 in Schleswig/Heesterberg geborene Niemann, schreibt in ihrer, uns Kindern, Anverwandten vertrauten Handschrift:

Meine Flucht aus dem Osten/ Warthegau 1945

1942

(*-Die Bombenangriffe der britischen Royal- Airforce auf Hamburg nehmen bis dahin unvorstellbare Ausmaße an. Nur der "Wilde Osten" verheißt jung verheirateten Paaren im reichsdeutsch annektierten Warthegau, mitten im Zweiten Weltkrieg, geborgten "Kleinen Frieden. Der "kleine" Bruder unserer Mutter, Paul Friedrich, geboren 10.12.1919, kommt am 23.10.1941 in Orlè bei paris in Frankreich aus Erschöpfung zu Tode, weil ein "Niemann" in soldatischer Pflicht nicht herzkrank sein darf, vor allem, wenn er es wirklich ist. Er liegt auf dem "Sammel- Soldatenfriedhof" in St.Andrè de L´ Eure begraben "-)

Am 1. April 1942 wurde mein Mann vom Hamburger Hauptbahnpostamt- Hühnerposten nach Posen ans Bahnpostamt versetzt.

Nach Ostern 1942( 5/6 April 1942) folgte ich meinem Mann nach Posen nach.

Zuerst hatten wir ein Zimmer in der Nähe des Friedhofs und Parks in Kuhndorf / Stadtteil von Posen. Tagsüber war mein Mann im Dienst und ich sah mir Posen an. Mittags trafen wir uns zum Essen in der Kantine des Hauptpostamtes.- So vergingen die Monate.

1943

(-Heinrich Himmler vergattert in seinen Posener Geheim- Reden vom 4.- 6.10.1943 reichsdeutsche Administratoren aus allen organisatorischen Bereichen, der SS, SA, Reichsbahn, Reichspost, Reichsbank, Finanzen, Polizei Ministerien, Wirtschaftsführer, darunter Rüstungsminister Albert Speer, dazu europäische "Gäste" aus Frankreich, Niederlanden, Belgien, Norwegen, Dänemark, Spanien, Portugal, Griechenland, Rumänien, Ungarn. Kroatien, Letland. Estland, Litauen auf die Endlösung der "Judenfrage" in Europa- http://de.wikipedia.org/wiki/Posener_Reden
Posener Reden).

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Unsere Mutter fährt mit ihren Aufzeichnungen fort:

Im Frühjahr 1943 übernahm mein Mann das Postamt in Zgierz/Litzmannstadt (Lodz) und wir zogen nach.

Wir hatten eine schöne Wohnung dort im Postamt und einen großen Garten dabei und Hühner und Kaninchen und eine Ziege. Mein Mann kaufte sich einen Schäferhund (ein hübsches Tier).

Mit der Zeit machten wir auch Bekanntschaft mit unserem Apotheker, Arzt, Schuldirektor, Gutsbesitzer Hintzenberg, Fabrikbesitzer Ostermann. Es war ein netter Gesellschaftskreis, der sich ab und an bei uns traf, auch zur Taufe von Jochen.

(*- Außerhalb des reichsdeutschen Kernlandes war damals im reichsdeutsch besetzten "wilden Osten" die "Braune Taufe/Eid auf das NS- Regime als globalem Gesellschaftlsentwurf unter dem Gruppendruck der "NS- Welt- Abenteurer" vor Ort gang und gäbe.So auch bei unserem Jochen- Der deshalb nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der wiedererlangten Freiheit deutscher Zivilgesellschaft, glückhaft in Ilsenburg/Harz in einem Not- Kinderheim geborgen, unternährt, mit Narben von Skorbut, russischer Krätze geschlagen, entkräftet, aber wachem Blick, erst richtig christlich in der Hamburg- Farmsen- Berner Kirche notgetauft wurde-)

1944

(* 6. Juni 1944 D- Day Invasion der Westalliierten in der Nromandie - 20. Juli 1944 gescheitertes Attentat auf Adolf Hitler-)

Jochens Geburt kam im Sommer, Anfang September, 1944 immer näher und die Russen auch.Darum schickte mich mein Mann mit unserem Winfried zu den Verwandten nach Waren an der Müritz. Eine Postsekretärin kam zur Begleitung bis Berlin mit und ich kam mit meinem Winfried gut und dankbar bei meinen Verwandten in Waren an.

Am 9. September 1944 wurde Jochen geboren und das Geburtstagstelegramm erreichte den Pappa noch am 9.9. abends bei seiner eigenen Geburtagsfeier. Das Telegramm von Jochens Geburt..

Nach 3 Wochen holte mein Mann seine Familie wieder zurück nach Zgierz/Lodtz. Die Russen sind zurückgeschlagen. Im Oktober 1944 wird mein Mann- trotz Kriegsversehrtheit wieder zur Deutschen Wehrmacht erst nach Dresden zu einem weiterbildenden Offizierslehrgang, dann nach Krottoschin (*Krotoszyn), kurz vor Breslau, als Kompaniechef einer Kriegsversehrteneinheit.eingezogen.

(*- Bei dem Lehrgang in Dresden erlebt mein Mann , dass bei einem Lehrgangs- Appell der Genralfeldmarschall Schörner auf ihn in der Reihe zugeht, ihn suggsestiv auffordert, seinen Stock beiseite zu legen "Sie sind doch kein Krüppe! Den Stock brauchen Sie doch gar nicht!" .

Mein Mann antwortet: "Herr Generalfeldmarschall zum Marschieren bin ich, in soldatischer Pflicht mit dem Verwundetenabzeichen Erster Klasse dekoriert, als Kriegsversehrter auf meinen Stock angewiesen. Der Stock bleibt bei mir"-

Ich bleibe mit den Kindern in Zgierz. Kurz vor Weihnachten kommt mein Mann noch auf Kurzurlaub und wir feiern Weihnachten mit unseren Lieblingen im Voraus. Der Abschied wird uns schwer.Aber was hilft es . Krieg ist Krieg.

Jahreswechsel 1944/1945

So geht Weihnachten 1944 vorbei. Der 8. Januar 1945 , mein 31. Geburtstag, kommt. Morgens schaue ich einer Kompanie zu, die gen Osten marschiert. Es liegt hoch Schne und mir ist weh ums Herz. Ich habe Sorge um meinen Mann

(*- Mein Mann wurde im Juni 1940 an der Westfront in Frankreich im Wald von ? verwundet, weil er seinem Offizierskameraden Walter von Arnim das Leben gerettet, bleibt notversorgt zurück, während von Arnim mit einer letzten JU- 52 gen Heimat fliegt. Mein Mann galt nach Monaten im Larzarett von Würzburg mit seinem steif gelegten Fuss danach als kriegsuntauglicher Kriegsversehrter-)

(*- 12, Januar 1945 Die Rote Armee beginnt große Offensive an der Weichsel- Front-)

Ein paar Tage später kam für mich ein Anruf. Ich sollte nach Krottoschin (*Krotoszyn) kommen. Mein Mann muß mit einer Kompanie abrücken gegen den Feind. Es ist noch Einiges zu besprechen. Ich bitte unsere deutsche Hebamme sich unserer Kinder anzunehmen, wenn uns Eltern was passiert. Und so reise ich ab.Meine Bogena (polnisches Haus- und Kindermädchen) mit Winfried auf dem Arm winkt mir nach und Winfried schreit herzzerreißend mir nach,

Ich laufe um den Zug in Litzmannstadt (Lodz) zu erreichen und lande pünktlichin Krottoschin . Mein Mann holt mich ab und bringt mich ins Hotel. Er selber muss in die Kaserne zurück. Am nächsten Morgen können wir im Hotel zusammen frühstücken. Da erreicht uns das Telegramm aus Zgierz "Frauen und Kinder bis 12.00 Uhr raus!".

Mein Mann bekommt vom Kommandeur 2 Tage Urlaub (wg. familiär dringlicher Angelegenheit). Ich laufe zum Bahnhof besorge Fahrkarten. Gegen 14.00 Uhr geht ein Zug nach Lodz (Litzmannstadt). Der kommt aber mit einer Stunde Verspätung an und hat bis Lodz 17 Stunden Verspätung. Die Straßenbahn bis zum Deutschlandplatz in Litzmannstadt (Lodz) fährt nicht mehr. Wir müssen laufen. Mein Mann läuft wegen seiner Kriegsverletzung am Stock nicht so schnell.

Überall werden in Litzmannstadt (Lodz) Barrikaden errrichtet und Schutzgräben ausgegraben.- Am Deutschlandplatz stehen deutsche Posten. Es heißt, wenn Sie weitergehen, müssen wir schießen!

Da eilen wir, euer Vater und ich, stumm auf dem Weg, fassungslos vor Verzweiflung, tränenreich stumm vor uns hinweinend:

"Wo sind unsere beiden Lieblinge, Winfried und Jochen"

wieder zurück zum Bahnhof Litzmannstadt (Lodz). Da steht ein vollbesetzter Zug. In zwei Abteilen werden in dem voll besetzten Zug noch 2 Kinder geboren. Hinter diesen finden wir noch einen Arbeitszug mit Küchenwagen. Der steht unter Dampf. Mit diesem Zug im Küchenwagen haben wir Litzmannstadt (Lodz) verlassen. In Lissa umsteigen.

Von Lissa bis Posen fahren wir im D- Zug 1. Klasse. In Posen haben wir die Nacht im Urlauberdorf verbracht. Am nächsten Tag mussten wir uns mt den Menschenmassen durch den Posener Bahnhofs- Tunnel zu den Bahnsteigen drängen. Teils wurden die Menschen niedergetrampelt. Ein Zurück gab es nicht.

Unser Vater

(*- unsere Mutter wechselt hier, wie zuvor, die Erzählperspektive und spricht uns drei Kinder direkt an- )

mußte zurück nach Krottoschin und ich habe mich um Frauen mit Kindern gekümert und mich mit in den Zug gequetscht. Wir waren die ganze Nacht bis Berlin unterwegs.

In Benschen stand der Zug 7 Stunden. Die Gänge zu den Toiletten standen voller Menschen. Man verrichtete seine Notdurft mit Zuschauern. Wenn die kleinen Jungs mal mußten. Hieß es:

"ich halte Dich hoch". Die kleinen Jungs pinkelten aus dem Fenster. Schließlich fuhren wir über Grossen (*Zossen?) in den Berliner Anhalter- Bahnhof ein.

Da der letzte Zug nach Hamburg fort ist, aber einer gleich nach Waren / Müritz Richtung Rostock abfährt fahre ich mit ihm, um so schnell wie möglich noch vor den schweren Angriffen der Russen wegzukommen.

Bei Großmutting, Tante Doring werde ich lieb aufgenommen

"Min Deern! ward schon alles gutwarden".

Onkel Louis (* -Tante Doras Mann, an Krebs erkrankt, verstirbt noch vor Kriegsende, bevor die Rote Armee in Waren an der Müritz erst einsickert, dann besetzt- ) liegt schwer krank im Bett.

Zwei Tage später fahre ich über Ludwigslust nach Hamburg. Meine Eltern sind froh, mich wiederzusehen.

"Aber wo sind die Kinder?" ist die erste Frage.

(* Aus meiner Erinnerung erzählt unsere Mutter zu einem anderen Zeitpunkt über ihre Gefühlsverfassung während und nach der Flucht aus dem Osten: "Ich ringe um Atem, kann auf Fragen nach unseren Lieblingen keine Antwort geben. In meinem Kopf breitet sich betäubend eine lähmende Leere aus.

Das wird auf Monate so bleiben, bis endlich Ende Juli 1945 Nachricht mit der Post aus Senne I bei Bielefeld von meiner Freundin Margot Hinzenberg, sechs Wochen nach Absendung, eintrifft, unsere beiden Lieblinge leben, sind mit einem Flüchltingstreck nach dem Ende des Krieges in Ilsenburg/Harz angekommen. Winfried ist in Senne I bei Bilefeld. Jochen nicht transportfähig in einem privaten Kinderheim in Ilsenburg, Zwischenstation auf der Strecke Halberstadt nach Bad Harzburg, zurückgelassen. Aber eure Heimholung ist eine andere abenteuerliche Geschichte)

Am nächsten Tag bin ich zur Polizei, mich dort anzumelden. Ein paar Tage später stand Euer Vater vor der Tür. Gott sei Dank! Er hatte es noch geschaftt.

Euer Vater musste sich gleich beim Oberkommando der Wehrmacht Hamburg- Harvestehude in der Sophienterasse melden und wurde nach Lübeck in die Kaserne geschickt .

(*- Am 27. Januar 1945 wird das Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit-)

Bei der Abreise aus Hamburg traf er sich mit Herrn Stammer (*Damaliger Nachbar und Mann von Edith in Hamburg- Farmsen/Meilskampsiedlung, gebaut von der Hamburger Sparkasse 1827) zusammen, der mit einem Gestllungsbefehl an die Front im Westen geschickt wurde. Dort ist er gefallen. Er ruht jetzt auf dem Soldatenfriedhof Wesel.

- Ende einer Flucht in vollen Zügen 1945 -

Genauer Zeitpunkt der Aufzeichnungen unserer Mutter ist unbekannt.

Vermutlicher Zeitpunkt der Aufzeichnungen unserer Mutter liegt in den späten 80-ziger / frühen 90- ziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts.

* Einlassung von mir

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Unsere Schwester, Brigitte, wurde nach dem harten Winter 1946/47 am 6. Mai 1947 in Hamburg- Farmsen im Frieden geboren

Unser Vater, Conrad Petrick, geboren am 9. September 1914 in Memel, in Tilsit, wie Armin Müller- Stahl (Jahrgang 1931), aufgewachsen, verstarb am 16. September 1966 an den Spätfolgen seiner Kriegsverwundungen, falscher medikamentöser Behandlung chronischer Schmerzen, dazu , letztendlich, wie viele Kriegsheimkeher, infolge seiner unbehandelten Kriegstraumata.

Unsere Lieblings- Groß- Tante Dora Wachholz, 1888 geborene Hensel, die Schwester unserer Großmutter mütterlicherseits, Emma Niemann, am 26.11.1882 ebenfalls in Federow bei Waren/Müritz geborene Hensel, starb 1971 in Waren/Müritz nach dem Tod ihrer Schwester Emma am 12. April 1970 in Hamburg- Farmsen.

Großvater Paul Niemann mütterlichseits, geboren als Pastorensohn am 13. Oktober 1876 in Kuhlrade bei Rostock, starb am 19. Mai 1962 in Hamburg- Farmsen.

Unsere Großeltern väterlicherseits, Franziska Petrick, am 15, Februar 1891 in Gnesen geborene Woszniak, starb 1975, ihr Mann, Louis Petrick, 1890 in Tilsit geboren, starb 1951, im Ersten Weltkrieg kriegsversehrt, sein Gesicht zerschossen, sein rechter Arm weggeschossen, beide in Hamburg- Farmsen.

Unsere Mutter Klotilde, Ruf- und Kosename Tilli, starb am 24. Juni 1999 in Hamburg- Farmsen.

Unser großer Bruder Winfried stirbt am 30. August 2013 in Hamburg- Hamm.

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Geschrieben von

Joachim Petrick

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Joachim Petrick

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