Sprachloses Staunen oder Unsagbarkeit der Liebe? Das Schweigen hat zahlreiche Dimensionen
Foto: Martin Langer/Agentur Focus
Die akademische Philosophie kann sich mit abgelegenen theoretischen Fragen beschäftigen, die vom Alltag genauso weit entfernt sind wie die Exoplaneten der Astronomie. Sie kann sich auch geradewegs auf die aktuellen ethischen oder politischen Probleme der Gesellschaft stürzen. Oder sie greift sich ein wichtiges, überall gegenwärtiges Phänomen des menschlichen Lebens heraus und kartiert seine Vielfalt und Bedeutsamkeit. Ein solches Phänomen ist das Schweigen, und darüber hat die Philosophin, Kunsthistorikerin und Germanistin Anna Schreiber nun eine rund dreihundertseitige Phänomenologie des Schweigens geschrieben.
Das Werk ist eine Dissertation und darum in einem etwas trockenen, akademischen Stil verfasst, jener Ausdrucksweise, die man im geisteswissen
an im geisteswissenschaftlichen Studium leider einübt und die interessierte Laien leider davon abhält, am Abend anstrengender Tage diesen erhellenden philosophischen Beschreibungen zu folgen. Das ist schade, denn es würde sich lohnen. Schließlich schweigen wir oft aus ganz unterschiedlichen Gründen, aber geredet wird meist nur übers Reden, da gibt es die Grammatik und die Logik und die Rhetorik – dabei wissen wir doch intuitiv, wie wichtig das Schweigen ist.Schweigendes Zuhören, Beredtes SchweigenAnna Schreiber gibt zunächst einen Überblick über die Formen des Schweigens. Das beginnt etwas abstrakt mit der Rede als „Ineinandergreifen von Gesagtem und Ungesagtem“, wird aber schon bald angenehm konkret in Abschnitten über „schweigendes Zuhören“, „beredtes Schweigen“ oder „Verschweigen“, um nur einige Varianten des Schweigens herauszugreifen. Allein diese Sammlung auf ein paar Dutzend Seiten ist anregend genug, um in einem gesonderten, weniger akademischen Essay noch einmal dargestellt zu werden.Der Hauptteil des Buchs besteht aus den Kapiteln zwei bis fünf. Hier stellt die Autorin das Schweigen in vier Dimensionen dar: der atmosphärischen (die hier die „ästhesiologische“ heißt), der ethischen, der emotionspsychologischen und der erkenntnistheoretischen. Für den Rezensenten war die atmosphärische die schönste und inspirierendste Dimension, die ethische die interessanteste, die emotionspsychologische die, die sich am weitesten von Philosophie entfernte, und die erkenntnistheoretische – nun ja, das war die philosophisch wiederum interessanteste.Atmosphären der Stille findet die Autorin an gewissen Orten: in Kirchen, im Wald, in Schneelandschaften und in der Bibliothek. Es geht also genau genommen nicht ums Schweigen, sondern um Räume, zu deren Wesen die Stille gehört und die den Menschen zum Schweigen bringen können. Die Art des Schweigens kann allerdings sehr unterschiedlich sein: Der sakrale Ort kann die Eintretenden ehrfürchtig schweigen lassen, das Zauberhafte der Landschaft kann „zu einer Zurückhaltung eigener Äußerung aufrufen“, das Schweigen in der Bibliothek ist eigentlich ein Lauschen auf das Gespräch zwischen den Texten, die dort versammelt sind.Meinungsmobbing, SchweigespiraleDas Feld der Aspekte, die Anna Schreiber der ethischen Dimension des Schweigens zuordnet, ist weit, es reicht von den Mäßigungen im Sprechen durch Takt und Höflichkeit, Besonnenheit und Gelassenheit bis zum Schweigen über gesellschaftliche Tabus und Fragen der Political Correctness, „Meinungsmobbing und dem Phänomen der Schweigespirale“. Hier kommt das Buch konkreten aktuellen gesellschaftlichen Themen am nächsten, und man hätte sich etwas mehr Detailtiefe, vielleicht sogar das eine oder andere ganz konkrete Beispiel gewünscht, um zu verstehen, wie die Autorin sich die Konsequenzen genau vorstellt, wenn „verschwiegene Konfliktbereiche (…) die Gesellschaft an ihrer Weiterentwicklung hindern“ und „durch das Verschweigen Druck auf das Mitglied einer Gesellschaft“ ausgeübt wird. Auffällig ist an dieser Stelle des Buchs, dass die Autorin, selbst wenn sie von sich in der ersten Person Einzahl spricht, das generische Maskulinum benutzt.Die Abschnitte des Kapitels, das sich der emotionspsychologischen Dimension des Schweigens zuwendet, widmen sich dem Verstummen aus Scham, der namenlosen Angst, dem sprachlosen Staunen und der Unsagbarkeit der Liebe. So inspirierend die Lektüre ist, zeigt sie auch, wie schwierig es ist, auf dem Grad der philosophischen Phänomenologie zu wandern. Sie will ja aufzeigen, was ein Leser eigentlich schon weiß, als zutreffend über seine eigene seelische und mentale Verfasstheit erkennt. Das gleicht immer einem Balanceakt, bei dem man auf der einen Seite ins bloße unbegründete Behaupten, auf der anderen Seite ins fachwissenschaftliche Modellieren abrutschen kann. Letztlich mag das aber für den interessierten Laien auch nebensächlich sein, wenn er sich vor Augen hält, dass das Buch, in dem er liest, eben eine Phänomenbeschreibung ist, die ihre Bestätigung in der eigenen Zustimmung findet, und die für fachwissenschaftliche Forschungen eine gewisse Voraussetzung, aber nie Ersatz oder Schlussfolgerung ist.Vermutlich war es schwer, für die letzte Dimension, die Anna Schreiber bestimmt hat, einen geeigneten Oberbegriff zu finden, sodass sie sie die „erkenntnistheoretische“ genannt hat. Hier geht es ihr aber darum, fünf grundsätzliche Erfahrungen, die sich der sprachlichen Erfassung entziehen und deshalb im Schweigen wenigstens teilweise erkannt werden können, zu beschreiben. Es sind das „bloß Wahrnehmbare“, das „unverkennbar Einzigartige“, die „Andersheit des Anderen“, das „Absurde“ und das „Transzendente“. Wieder steckt das Kapitel, anknüpfend an die Traditionen der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts, voller Anregungen, die man gern in einem spannenden Essay noch einmal wiederlesen würde.Das Buch endet mit einem Nachdenken über Wittgensteins berühmtes Diktum „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Anna Schreibers Studie übers Schweigen zeigt, dass man viel übers Schweigen sprechen kann und muss. Am Ende bleibt uns nichts übrig, als das Schweigen zu brechen und zu reden – auch über den Sinn und die Notwendigkeit des Schweigens. Anna Schreibers Buch ist dafür ein großartiger Leitfaden.Placeholder infobox-1
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