„Tausend Aufbrüche“ von Christina Morina: Die Wucht zweier Pappkartons
Geschichte Noch in den letzten Monaten der DDR gab es zahllose Ideen für demokratische Teilhabe. Im Westen sah es damals nicht anders aus. Christina Morina zeigt, wie uns diese unterschiedlichen Auffassungen von Demokratie noch heute prägen
Die tausend Aufbrüche nach der friedlichen Revolution wurden abgewürgt, sie kehren nun wieder als Farce
Foto: Dirk Eisermann/laif
Ihren Roman Kindheitsmuster hat die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf mit einem viel zitierten Satz von William Faulkner begonnen: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Er könnte auch am Anfang des Buches Tausend Aufbrüche der Historikerin Christina Morina stehen. Denn letztlich geht es darin um die Frage, wie viel Vergangenes in den heutigen politischen Spannungen zwischen Ost und West in Deutschland steckt.
Aber Morina beginnt nicht mit einem abstrakten, klugen und etwas paradoxen Merksatz, sondern mit einer Anekdote, mit zwei Pappkartons, die eine „freundliche Archivarin“ im Haus der Demokratie in Leipzig ihr „zuletzt“ noch bringt, voll von Entwürfen für demokratische Gestaltungen und Initiativen
2;rfen für demokratische Gestaltungen und Initiativen, die in den letzten Monaten der DDR entstanden sind. Von einer „demokratischen Wucht“ schreibt die Historikerin, die ihr entgegenschlug, als sie die Deckel der Kartons öffnete, und nach der Durchsicht dieser Dokumente hatte sie den Titel ihres Buchs gefunden: Tausend Aufbrüche.Auf diesen ersten anderthalb Seiten des Buchs wird seine wunderbare Stärke bereits spürbar. Morina ist das seltene, vielleicht sogar einmalige Kunststück gelungen, ein sachliches, historisch analysierendes Werk mit vielen Quellen und Belegen zu verfassen, das zugleich eine Wärme ausstrahlt, die das Leserherz erfasst und durch die Kühle der Argumente und Begründungen trägt. Die gut 300 Seiten, gefolgt von 100 Seiten mit Fußnoten und Quellenangaben, werden so zu einer sachlich vorgetragenen Geschichte im doppelten Wortsinn, die den Leser ergreift und nicht mehr loslässt.Die wichtigsten Quellen der Historikerin sind Briefe, die von Menschen in beiden deutschen Staaten in irgendeiner Form an „den Staat“ geschrieben wurden, um Kritik und Vorschläge zur je aktuellen politischen Situation vorzubringen. In der alten Bundesrepublik war der Adressat solcher Schreiben offenbar oft der Bundespräsident, in dessen Archiven fand Morina denn auch eine Vielzahl von Briefen. Die DDR-Bürger wandten sich an verschiedene Stellen, von den Presseorganen bis zum Staatsratsvorsitzenden. Dennoch gab es ein Archiv, in dem sie alle gesammelt wurden: beim Ministerium für Staatssicherheit.Demokratiegeschichte in Ost und WestDas Buch beginnt mit einer kurzen Ideengeschichte des Staatsbürgerbegriffs in Deutschland und verfolgt die unterschiedlichen Wege, die das Verständnis vom Staatsbürger in Ost und West genommen hat: hier der vom Staat zur Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus verpflichtete Bürger, dort der Bürger, dem die Verfassung vor allem Abwehrrechte gegen den Staat garantiert.Es ist die Demokratiegeschichte in ihren verschiedenen Ausprägungen in Ost und West, die Morina sodann aufarbeitet, genauer gesagt, die Geschichte des Demokratieanspruchs, denn, daran lässt Morina keinen Zweifel, von Demokratie konnte in der DDR von Anfang an keine Rede sein. Sie leitet her, dass das ständige ideologische Bemühen, die Organisation des gesamten Lebens im Sozialismus als die wahre, die sozialistische Demokratie hinzustellen, aber nicht wirkungslos geblieben ist. Morina verwendet den Begriff einer „partizipativen Diktatur“. Die ständige Forderung an die Menschen, sich in den Aufbau des Sozialismus einzubringen, dies gar zur Pflicht zu machen, hat auf der einen Seite bewirkt, dass die Leute eine kritische Distanz zum Staat aufgebaut haben, zum anderen hat es aber eben einen bestimmten Begriff von Demokratie geprägt, und dieser unterscheidet sich wesentlich von dem, der sich in der alten Bundesrepublik durchgesetzt hat. Auch wenn den Menschen in der DDR keine wirkliche Partizipation an politischen Entscheidungen zugestanden wurde, auch wenn sie in Gesellschaft und Wirtschaft letztlich keine Mitwirkungs- und Gestaltungsmacht hatten, hat der Anspruch auf umfassende Teilhabe ihr Demokratieverständnis geprägt.Was geschah, als sich für dieses Demokratieverständnis in den letzten Tagen des Jahres 1989 plötzlich die Chance zu ergeben schien, Realität zu werden? In der untergehenden DDR führte die friedliche Revolution zu jenen tausend Aufbrüchen, die die Historikerin nun in zwei Pappkartons vorfand. Aber auch in der alten Bundesrepublik regte sich, daran erinnert Morina, ein Interesse daran, die Situation zu nutzen, um Elemente der direkten politischen Teilhabe, die der parlamentarischen Demokratie fremd waren, in eine neue Verfassung zu integrieren.Was ist geblieben von den tausend Aufbrüchen? Morina schreibt das nicht, aber beim Lesen ihres Buchs kann einem im Rückblick auch auf die eigenen Erlebnisse doch der Gedanke kommen, dass das, was als friedliche Revolution begann, in den ersten neun Monaten des Jahres 1990 friedlich niedergeschlagen wurde, indem man den Leuten keine Atempause zum Innehalten gönnte und verkündete, das, was da passiert, sei doch die Erfüllung des Sinns jener Revolution. Das mag kurzfristig plausibel gewesen sein, und es war durch das Wahlergebnis legitimiert, einer Wahl allerdings, die bereits auf das westliche Verständnis von Demokratie festgelegt war. Die tausend Aufbrüche wurden jedenfalls abgewürgt, aber der Geist, aus dem sie entstanden waren, lebte weiter, die Aufbrüche, die damals als Tragödie endeten, kehren nun wieder als Farce.Konfliktmanager im WestenDie Autorin selbst zeigt jedenfalls deutlich, dass die tausend Aufbrüche zwar nicht Realität geworden sind, aber dass sie auf vielfältige Weise bis heute wirkmächtig geblieben sind, dass die Vorstellungen von Demokratie und Verfassung, die in der DDR entstanden und zwischen Mauerfall und deutscher Einheit formuliert worden sind, die Demokratieentwicklung der Berliner Republik „tiefgreifend, konstruktiv und auch beunruhigend“ geprägt haben. Für das Verständnis der gegenwärtigen politischen Gemengelage erscheint es Morina notwendig, dies etwa im Wirken der überdurchschnittlich großen Zahl von Politikerinnen und Politikern mit ostdeutscher Biografie aufzuzeigen. Exemplarisch vollzieht sie das an der politischen Biografie Angela Merkels nach, betont aber, dass diese keineswegs die große Ausnahme ist, als die sie oft hingestellt wird.Spuren des ostdeutschen Demokratieverständnisses findet Morina auch anderswo, natürlich im Erstarken der AfD, aber auch im Selbstverständnis von Lokalpolitikern und Bürgermeistern, das sich zwischen Ost und West deutlich unterscheidet. Bei ostdeutschen Amtsträgern findet sich eher ein „konsensdemokratisches, harmonieverpflichtetes Politik- und Rollenverständnis“, während sich die westdeutschen Pendants eher als Konfliktmanager verstehen.Was Morinas Buch leistet, ist vor allem eine genaue, fundierte Beschreibung der Entwicklung des Verständnisses von Demokratie in beiden deutschen Staaten und der Konsequenzen und Probleme, die daraus in den letzen drei Jahrzehnten entstanden sind. Die Schlussfolgerungen, die man beim Lesen daraus zieht, sind wohl sehr verschieden und zum Teil widersprüchlich. Da stellt sich die Frage, ob es um den sozialen Frieden in diesem Land heute besser bestellt wäre, wenn die tausend Aufbrüche in reale Ergänzungen und Veränderungen der politischen Strukturen der Bundesrepublik gemündet wären. Hätten uns mehr Mut und Experimentierfreude gutgetan, statt der schnellen und umstandslosen Übernahme der parlamentarischen Demokratie für das gesamte vereinigte Deutschland? Hätte eine öffentliche und breite Aushandlung der verschiedenen Demokratieideen am Ende nicht zu einer stabileren Version führen können, die in der gegenwärtigen Krise größere Akzeptanz finden würde?Auf der anderen Seite schleicht sich beim Nachdenken über die ideologische Verwendung des Demokratiebegriffs in der partizipativen Diktatur der DDR immer wieder der Gedanke ein, ob die Ablehnung der aktuellen politischen Klasse, die in ostdeutschen Regionen immer stärker wird, sich nicht unter anderem aus Erinnerungen an vergangene Zeiten speist. Könnte es nicht sein, dass moralische Appelle zur Solidarität und zum Verzicht des Einzelnen zugunsten einer großen Sache, die im Zusammenhang von Klimawandel und Pandemie von der Politik dringlich und als Bürgerpflicht eingefordert werden, gerade als Abkehr von den Grundprinzipien der westdeutschen Demokratie und als Rückkehr der alten Vortäuschungen von Demokratie wahrgenommen werden?Welche Demokratie wollen wir, und welche brauchen wir in unsicheren Zeiten? Darüber nachzudenken, stiftet Morinas Buch an, und das ist vielleicht die wichtigste Wirkung, die es haben kann.Placeholder infobox-1
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