Ilko-Sascha Kowalczuk über Rechtsruck: „Die AfD ist kein ostdeutsches Problem“
Interview In drei Ländern ist die AfD stärkste Kraft in Umfragen. Wieso ist die Republik 33 Jahre nach der Wiedervereinigung gespaltener denn je? llko-Sascha Kowalczuk hat Jakob Augstein verraten, was das mit gemeinsamen DDR-Erfahrungen zu tun hat
Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch mit Jakob Augstein: „Der Westen kam 1990 wie Werbung für Waschmittel rüber: Drüben ist alles blütenrein und strahlend weiß!“
Foto: Phillip Plum für der Freitag
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ist zwar in der DDR aufgewachsen, doch mit seinen Thesen zu Mauerfall und Wiedervereinigung eckt er regelmäßig an. Jetzt kommt die AfD in Sachsen auf 35 Prozent in Umfragen. Über die steigende Gefahr von rechts hat Kowalczuk in der taz gesagt: „Wer Nazis wählt, ist ein Nazi.“ Wimmelt es tatsächlich vor Faschisten in Ostdeutschland? Und falls ja, wie sollte man damit umgehen? Ein Gespräch mit Jakob Augstein.
Jakob Augstein: Herr Kowalczuk, was ist ein Ostdeutscher?
Ilko-Sascha Kowalczuk: Aha, Sie steigen komödiantisch ein (lacht).
Finden Sie?
Na ja, normalerweise meldet sich an dieser Stelle immer einer und sagt: Ostdeutsche, das sind die aus Schlesien und Ostpreußen! Aber ich will es nicht veralbern, weil
Finden Sie?Na ja, normalerweise meldet sich an dieser Stelle immer einer und sagt: Ostdeutsche, das sind die aus Schlesien und Ostpreußen! Aber ich will es nicht veralbern, weil die Debatte natürlich wichtig ist. Es geht da um Fragen wie: Brauchen wir einen Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland? Oder ist es nicht eher so, dass Mecklenburg-Vorpommern strukturell mehr Ähnlichkeit mit Schleswig-Holstein oder Niedersachsen hat als mit Thüringen? Ich würde auf Ihre Frage antworten: Ostdeutschland ist ein Kulturraum, eine kulturelle Erfahrung. Man kann da auch nicht einwandern: Nur weil man 30 Jahre in Leipzig gewohnt hat, wird man dadurch nicht zum Ostdeutschen.Man muss als Ostdeutscher geboren sein?Ostdeutsche sind durch gemeinsame kulturelle Erfahrungen geprägt, die zwischen Kap Arkona und Suhl ganz ähnlich waren. Es gab die gleichen Schulbücher, die gleichen Medien. Die Grunderfahrungen waren dieselben. Daran ändert sich auch nach einem Systemsturz wie der Wiedervereinigung nichts. Selbst wenn man jetzt in Stuttgart lebt.Kann man diese Erfahrungen weitergeben?Natürlich kann man das. Die wichtigste Instanz für die Sozialisation ist der Abendbrottisch. Da werden Familienerzählungen auf die nächste Generation übertragen. Deswegen gibt es auch so spezifisch ostdeutsche Discos, Räume, in die Sie von außen relativ schwer reinkommen. Das ist wissenschaftlich auch gar nichts Außergewöhnliches. Es gibt dörfliche Regionen in Österreich, da können Sie hinkommen und werden in 100 Jahren immer noch der Fremde sein.Empfinden Sie sich als Ostdeutschen?Ich bin ein Berliner mit ukrainischem Namen, beides hat mich geprägt. Aber vor allem bin ich ein freiheitsliebender Mensch.Warum wählen Menschen im Osten häufiger die AfD?Die AfD ist kein ostdeutsches Problem. Vor vier Jahren habe ich das Buch Die Übernahme geschrieben. Das endete mit einer These, die meines Erachtens bisher viel zu wenig diskutiert wird: Was in Ostdeutschland passiert, das passiert mit zeitlicher Verzögerung danach immer auch in Westdeutschland. Der Selbstradikalisierungsprozess wird rüberschwappen: Erst feiert die AfD im Osten, übrigens mit westdeutschem Personal, unglaubliche Erfolge. Und ein, zwei Legislaturperioden später zieht der Westen nach. Es handelt sich zudem um ein globales Phänomen.Umfragen in Sachsen sehen die AfD bei 35 Prozent. So hoch sind die Zahlen im Westen nicht.Noch nicht. Aber es gibt natürlich einen entscheidenden Unterschied. Dem Osten wurde seit 1989 eingeredet, dass sich die Menschen da mehrheitlich die Freiheit erkämpft haben. Mittlerweile glauben das die meisten sogar. Es wird also so getan, als sei der Mauerfall die erste Revolution der Weltgeschichte gewesen, an der die Mehrheit der Menschen beteiligt war.Na ja, zumindest die erste in Deutschland …Aber so etwas wie Revolutionen, an denen Mehrheiten sich beteiligen, gibt es nicht! Die Masse steht bei solchen Umbrüchen immer hinter der Gardine und wartet ab, wer gewinnt. Das ist in der Geschichte immer so gewesen, auch in der DDR. Nun wurde aber den Menschen in Sonntagspredigten eingebläut, die Ostdeutschen hätten sich in einem beispielhaften Akt von Mut die Freiheit erkämpft.Ist das ein Problem?Ja. Weil es suggeriert, die Ostdeutschen hätten sich nach dem westdeutschen Modell gesehnt und, noch wichtiger, dieses Modell auch sofort verstanden. Wir haben nach 1990 wahnsinnig viel darüber diskutiert, wie man die jungen Leute in die Bundesrepublik integrieren kann – mit angepassten Curricula an den Universitäten und Schulen. Und was hat man mit den Älteren gemacht? Hat man darüber nachgedacht, wie man Millionen von Menschen, die jahrzehntelang in einem anderen System gelebt haben, so schnell wie möglich für die Demokratie begeistern kann? Nein, hat man nicht. Weil es hoffnungslos war.Der Historiker Rainer Eckert liefert eine einfache Erklärung für die politische Stimmung im Osten. Er sagt, die Ostdeutschen fragen sich: Womit kann man die Westdeutschen am meisten ärgern? Mit der AfD? Oder mit Putin? Und am Ende entscheiden sie sich dann für beides.Rainer Eckert hat recht. Das ist etwas, was wir in den letzten zwei, drei Jahren sehr stark beobachten können in Ostdeutschland: die Vereinigung mit der stärksten antiwestlichen Kraft. Im Moment ist das der Kreml mit seinen Claqueuren bei der AfD. Das erklärt aber noch nicht, wie es überhaupt so weit kommen konnte.Und, wie?Wir haben im Osten eine autoritäre Tradition, die über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR fortwirkte. Die ist nie gebrochen worden. Wenn Dirk Oschmann in seinem Buch sagt, der Westen habe den Osten erfunden, muss man entgegenhalten: Der Osten hat sich auch seinen eigenen Westen konstruiert. So ein bisschen wie in der Ariel-Werbung: Da drüben ist alles blütenrein und strahlend weiß! Viele wollten nicht wahrhaben, dass auch im Westen nicht alles super ist. Diese Menschen konnten natürlich nur enttäuscht werden von der Realität.Die PDS hat diese Enttäuschung viele Jahre aufgefangen.Ja, die SED/PDS hat einen großen Anteil daran, dass es lange so friedlich geblieben ist. Aber dann kam Ende der 2000er etwas hinzu, womit keiner gerechnet hat.Placeholder infobox-1Nämlich?Die Ansicht, dass nicht alles falsch war, was die Marxisten-Leninisten erzählt hatten. Der globale Finanzcrash 2008 zeigte, dass es vielleicht doch nicht so einfach ist im Kapitalismus, wie man sich das vorgestellt hatte. Plötzlich wurden Abermilliarden Euro in systemrelevante Institutionen gepumpt, ohne dass es wirklich kommuniziert wurde. Das hat die Menschen im Osten, die stärker auf staatliche Finanzhilfen angewiesen waren, mehr verunsichert als die im Westen. Jetzt erleben wir den nächsten Umbruch: die digitale Revolution, die tiefe Verunsicherung schürt. All das hat, glaube ich, zur Radikalisierung im Osten beigetragen.Sie sagen, die Politik solle die AfD ausgrenzen. Gilt das auch, wenn die Partei bald in drei Ost-Bundesländern stärkste Kraft wird? Sollen sich die Politiker dann ein anderes Volk wählen?Ich bin kein Politiker. Und ich habe nicht gesagt, dass man alle AfD-Wähler rechts liegen lassen soll. Ich sage: Wenn die AfD in Sachsen 35 Prozent in Umfragen hat, gibt es noch 65 Prozent Demokraten, die unsere Unterstützung brauchen. Die demokratischen Ehrenämtler müssen stärker gewürdigt werden.Entscheiden sich die Ostdeutschen für rechten Protest, weil es ihnen finanziell schlecht geht?Im postkommunistischen Raum ist niemand so weich gefallen wie die DDR-Menschen. Es gibt ein interessantes Paradox, das wir schon seit dem 19. Jahrhundert kennen und auch in der Vorzeit des Ersten Weltkriegs beobachten konnten. Und zwar, dass sich zu Protesten in der Regel nicht die Ärmsten organisieren, sondern jene, die ziemlich gesettelt sind. Im Osten laufen die Umfragen seit 15 Jahren so: Wenn Sie fragen, wie es dem Einzelnen persönlich geht, dann antworten zwei Drittel bis drei Viertel, dass es ihnen selbst gut geht. Wenn Sie aber dieselben Menschen fragen, wie es Ostdeutschland insgesamt geht, dann antworten sie zu gleichen Anteilen: total schlecht! Deswegen hat es keinen Sinn, nur fiskalisch über den Osten zu reden, wie es der Westen in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Nach dem Motto: Wir haben euch Billionen geschickt, jetzt haltet doch mal die Fresse! Es müsste viel mehr um die kulturelle Wut der Menschen gehen.Warum sind sie denn so wütend?Wenn ich das Buch von Dirk Oschmann lese, habe ich das Gefühl, er ist wütend auf sich selbst, weil er 30 Jahre lang seine ostdeutsche Identität verleugnet hat. Das musste er wahrscheinlich auch, um eine erfolgreiche akademische Laufbahn hinzulegen. Das kann einen wütend machen: Nur durch die Verleugnung der eigenen Herkunft ist man in der Lage, eine große Karriere in der Ankunftsgesellschaft zu machen. Ich zum Beispiel habe keine Karriere gemacht, weil ich mich nicht für Hierarchien interessiert habe, die in diesem westlichen System sehr wichtig sind.Sie haben gesagt, wer heute die SED-Diktatur verharmlost, verrät die Freiheit.Das haben Sie schön vorgelesen. Ich sage auch: Nur in der Freiheit kann man die Freiheit verraten.Sie haben den Vorwurf gegen Katja Hoyer und ihr Buch „Diesseits der Mauer“ gerichtet.Ja, meines Wissens sogar in Ihrer Zeitung. Ohne Freiheit ist alles nichts. Hoyer hat ein revisionistisches Buch ohne Archivquellen geschrieben und sieht die DDR als legitime Alternative zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das ist für mich Verrat an der Revolution von 1989.Mit der Freiheit ist es wie mit Beton: Es kommt drauf an, was man daraus macht. Auch die Rechten von der AfD führen diesen Wert in ihrem Banner. Und im Zeichen der Klimakatastrophe hat das Wort noch mal eine ganz andere Bedeutung bekommen.Die AfD ist eine Anti-Freiheits-Partei. Wenn ich höre, wie diese Extremisten über die Bundesrepublik reden, habe ich das Gefühl, ich lebe in einer Diktatur, die kurz davor ist, sozial abzustürzen. Die AfD gehört, mindestens in einigen Ländern, verboten!Warum greift Politikverdrossenheit immer mehr um sich?Vor ein paar Tagen habe ich einen treffenden Kommentar im Tagesspiegel gelesen. Da stand, dass die von mir sehr geliebte heute-show zu Politikverdrossenheit führt, weil sie dazu animiert, zu denken, Politiker seien korrupte Arschlöcher, die sich den ganzen Tag die Taschen füllen. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass in Beliebtheitsumfragen eigentlich nur Bordellbesitzer schlechter abschneiden? Es ist ein dummes Vorurteil, mehr nicht.Placeholder authorbio-1
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