Historikerin Katja Hoyer: „Ich finde es schwierig, sich ständig positionieren zu müssen“
Interview Katja Hoyer erzählt in ihrem Buch „Diesseits der Mauer“ vom alltäglichen Leben in der DDR. Die Reaktionen sind gespalten und befeuern die Ost-West-Debatte. Was sagt sie selbst dazu?
Katja Hoyer: „Man kann die DDR nicht nur als dunkle Folie nehmen, um zu sagen: Das haben wir in der BRD richtig gemacht“
Foto: Meike Kenn für der Freitag
Seit Wochen wird über ihr Buch gestritten. Am Abend vor unserem Treffen stellt Katja Hoyer Diesseits der Mauer (Hoffmann und Campe) erstmals in Berlin vor, der Pfefferberg ist ausverkauft. Viele ältere Leute sind gekommen, auch die Schriftstellerin Monika Maron ist da, Marion Brasch führt durch den Abend. „Dit iss unser Leben“, sagt ein Mann. Sie musste dann nach der Lesung noch lange signieren, erzählt Hoyer.
der Freitag: Frau Hoyer, wie war die Buchpremiere in Berlin für Sie?
Katja Hoyer: War schon gut. Man vergisst bei all den öffentlichen Besprechungen, dass auch normale Leser da sitzen, Menschen, die sich im Hinblick auf ihre eigene Biografie, ihre eigenen Erfahrungen mit meinem Buch beschäftigen. Gestern kam jemand zu mir, der beim Amiga-P
hrungen mit meinem Buch beschäftigen. Gestern kam jemand zu mir, der beim Amiga-Plattenlabel gearbeitet hat. Er war für die musikalische Unterhaltung der Arbeiter an der Druschba-Trasse zuständig.Der Trasse der Freundschaft, durch die Gas nach Osteuropa, auch in die DDR fließen sollte. Jedes Bruderland sollte einen Abschnitt bauen.Ja, es kamen viele Ingenieure aus der DDR dahin, einer von ihnen, ein Schweißer, kommt auch im Buch vor. Er suchte ein Abenteuer, um dem Trott zu entkommen, und ging auf Montage nach Gremjatschinsk. Er hat davon genauso erzählt, wie der Mann in meiner Lesung, im gleichen Jargon. Angesichts der Abwesenheit von Frauen nannten beide die Diskoabende dort: „Saufen mit Musik“.Ihr Buch erschien zuerst in Großbritannien. Was interessiert die Briten an solchen Geschichten?Viele haben selber Erfahrungen mit der DDR gemacht, zum Beispiel aus der linken politischen Szene. Jeremy Corbyn fuhr mit seiner Parteikollegin Diane Abbott mal auf einer Motorradtour durch die DDR. Manche waren eine Zeitlang als Fremdsprachenlehrer in der DDR oder haben Austauschsemester gemacht oder waren auf der Leipziger Messe. Die haben eine Beziehung zu dem Land.Und eine jüngere Generation schaut Serien wie „Kleo“ und findet die DDR irgendwie cool.Dass die die DDR cool finden, glaube ich nicht. Es ist Fiktion. Aber es fasziniert. Es erscheinen gerade auch viele Bücher ostdeutscher Autorinnen auf Englisch, Jenny Erpenbecks Kairos oder Brigitte Reimanns Geschwister. Es scheint ein grundsätzliches Interesse an der Welt hinter dem Eisernen Vorhang zu geben, nach mehr als 30 Jahren. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel war mit mir zusammen in der BBC auf Sendung. Wir haben diskutiert, wie die Geschichte des Ostblocks und der kommunistischen Welt anders geschrieben werden kann. Karl Schlögel war es wichtig, von den Menschen und ihrer Lebensweise zu erzählen, im Hinblick auf die Sowjetunion wird das oft vernachlässigt. Man kann das Land nicht nur über Politik und Staatsmacht verstehen.Sie erzählen vom normalen Leben der Bürger in der DDR, von deren Alltag.Alltag ist ein schwieriges Wort, weil man immer gleich an Trabis und Eierbecher denkt. Aber es geht um die Lebensweise, wie etwas gerochen oder wie es sich angefühlt hat. Wie man gearbeitet hat. Ich wollte die Atmosphäre einfangen.Dieser Ansatz ist bei Leser:innen ziemlich erfolgreich, hat aber auch harsche Kritik von einigen Historiker:innen ausgelöst, unter anderen im „Freitag“: Man könne Regime und Leben nicht trennen, Sie würden die DDR als eine Wohlfühldiktatur beschreiben. Wie finden Sie das?Ich nehme diese Trennung von Alltag und Diktatur gar nicht vor, die mir immer vorgeworfen wird. Ich beschönige nichts. Sondern ich stelle in meinem Buch beides nebeneinander, erst mal, ohne zu werten. Etwas zu erklären wird oft damit verwechselt, es zu legitimieren – aber man will die Dinge doch erst mal verstehen. Warum handelt jemand so oder so? Bei Diskussionen in anderen Ländern erlebe ich eine ganz andere Diskussionskultur, es ist offener, vielleicht weil die persönliche Betroffenheit fehlt. Und weil man gar keine Erwartungen hat. Da ist eine Neugier.Sie betonen die Rolle der Frauen.Die Regierung hatte angeordnet: Wir machen jetzt mal Feminismus von oben. Natürlich war das eine diktatorische Entscheidung, die dann die Leute betroffen und ihre Lebenswege mit beeinflusst hat. Ich behaupte ja gar nicht, dass das getrennt war vom Staat. Aber es konnte teilweise auch was Gutes daraus entspringen. Man könnte doch mal darüber nachdenken, wie es eigentlich Frauen möglich wurde, Arbeit und Familie zu meistern. Wie sind diese Prozesse gelaufen? Ohne, dass man sofort alles negieren muss, weil es innerhalb der SED-Herrschaft stattgefunden hat. Wenn ich so was sage, kommt oft: „Aber es war doch eine Diktatur, oder?“ Natürlich war es eine Diktatur, aber man kann doch trotzdem über einzelne Aspekte reden.Auf dem Cover Ihres Buches wird „Eine neue Geschichte der DDR“ angekündigt. Günter Gaus schrieb schon in den 80ern von der „Nischengesellschaft“, Wolfgang Engler erzählte vom Leben im SED-Staat. Und die britische Forscherin Mary Fulbrook hatte diesen Blickwinkel. Was ist bei Ihnen so neu?Mir geht es um die breite Masse, den Mittelstrang. Wir wissen schon viel über Dissidenten, die standen lange Zeit im Mittelpunkt. Da gingen auch die meisten Forschungsgelder hin. Man sollte sich an die SED-Diktatur erinnern, nicht an die DDR insgesamt. Es ging immer wieder um die Täter- und Opfer-Gesellschaft. Auch die Mehrheit ist in diese Täter- oder Mitläufer-Schiene gefallen. Mir hat gefehlt, mal darüber zu reden, welche Rolle zum Beispiel Massenkultur, wie die Band Puhdys, spielte.Welche denn?Die Puhdys haben erst englische Texte gesungen, Coverversionen. Das durften sie dann nicht mehr, sie bekamen Auftrittsverbot. Und sind so gezwungen worden, etwas Eigenes zu schaffen. Sie machten dann deutsche Texte und konnten auftreten. Die haben sich auch in der Masse verkauft.„Wenn ein Mensch lebt“ von den Puhdys ist einer der schönsten Ost-Rock-Songs.Es wurde oft bemängelt: Naja, die haben sich innerhalb der Diktatur arrangiert. Und deshalb kann man das nicht ernst nehmen. Aber die wollten, so wie andere Bands auch, Musik machen. Und mussten irgendwie eine Möglichkeit finden, das hinzukriegen, ohne sich selbst dabei zu verlieren.Provokantere Künstler, wie Renft oder Bettina Wegner, kommen im Buch gar nicht vor. Warum?Zählt Wolf Biermann denn nicht? Die Wut und Kritik, die seine Ausbürgerung bei Künstlern ausgelöst hat, wird ja beschrieben. Natürlich gab es noch viel mehr Subkultur oder Dissidenten. Aber ich wollte mich auf die breite Masse konzentrieren und lasse die Geschichten erst mal stehen.Können Sie verstehen, dass manche, die gelitten haben, sich vor den Kopf gestoßen fühlen?Natürlich, denn da spielen ja dann persönliche Erfahrungen mit. Dass ich Geschichten von Unterdrückung, von Zufriedenheit und von den vielen Stufen dazwischen in einem Buch erzähle, ist nicht leicht zu hören, wenn man das selbst erlebt hat. Natürlich braucht es Zeit, bis man über diese Dinge distanzierter reden kann. Aber ich finde es als Historikerin schwierig, dass man sich ständig positionieren muss. Ich werde immer gefragt, was meine Eltern gemacht haben. Wie alt ich war oder wo ich in der DDR gelebt habe. Ich habe das bewusst in mein Buch eingebaut, weil es sowieso diskutiert wird. Meine Mutter war Lehrerin, mein Vater NVA-Offizier.Die meisten Menschen, die im Buch vorkommen, haben Wege gesucht, ihr Leben einzurichten.Das machen die meisten Menschen in allen Systemen – auch in Demokratien. Viele sind auch heute unzufrieden und gehen trotzdem nicht auf die Straße oder im extremen Fall nicht mal wählen. Das ist natürlich nicht vergleichbar, aber es zeigt: viele Menschen arrangieren sich mit den Gegebenheiten und leben ihr Leben innerhalb der Bedingungen, die um sie herum existieren.Als Historikerin versuchen Sie, zu verstehen, woher etwa in der SED-Elite diese Paranoia vor dem eigenen Volk kommt.Walter Ulbricht und andere, die in den Dreißigerjahren vor den Nazis in die Sowjetunion emigriert waren, haben dort erlebt, wie Stalin auch Exilkommunisten verfolgte, verhaftete, umbrachte. Man musste beweisen, dass man kein „rot lackierter Faschist“ war, andere denunzieren, um loyal zu wirken. Diese Erfahrung von Verrat und Terror war prägend für diese Gründungsväter der DDR.Auch für Erich Mielke waren fast alle Bürger potenzielle Feinde.Ja, aber es war nicht nur er, das zog sich durch die Führungselite. Sie schotteten sich ab, waren in der Wandlitz-Siedlung vom Volk abgeschirmt, in ihrer eigenen Nische, ihrem Kokon. Man hat es nie gelernt, dem eigenen Volk zu trauen.Sie erzählen vom Pfarrer Oskar Brüsewitz, der 1954 aus dem Westen in die DDR kam und sich 1976 dort selbst verbrannte. Er wurde als Ikone konstruiert, eine Projektionsfläche für den Westen. Aber es ist differenzierter.Ja, es gibt auch eine andere Seite, eine kompliziertere, die ausgeblendet wurde, und ich finde, dass man ihm damit auch als Mensch nicht gerecht wird. Er hatte viel durchgemacht – war noch ein Teenager im Krieg und geriet in Gefangenschaft. Seine erste Ehe ging in die Brüche, sein Sohn verstarb tragisch an einer Krankheit und Brüsewitz selbst hatte auch gesundheitliche Probleme. Seine Verzweiflungstat als bloßen Akt politischer Opposition darzustellen, erscheint mir nicht richtig.Ihr Buch trifft einen Nerv, so wie die Polemik von Dirk Oschmann. Wie nehmen Sie die Debatte hier wahr? Sie leben seit 12 Jahren in Großbritannien.Ich war überrascht, welche Wellen das Oschmann-Buch geschlagen hat. Es war wie ein Ventil für etwas, das die Leute offensichtlich bewegt und was sich angestaut hat. Ich hatte mich dieser ganzen Debatte ja entzogen. Ich habe im Osten die ersten 26 Jahre meines Lebens verbracht, habe in Jena studiert und ging dann ins Ausland. Ich wollte einfach nur raus aus Deutschland und ging erst mal nach Singapur. Irgendwann bin ich in Großbritannien gelandet. Man kann da als Historikerin gut arbeiten, wie ich finde. Der Schreibstil ist ein anderer und das passt besser zu mir.Wo soll es hingehen in der Ost-West-Debatte? Wie kann es zu wirklichem Austausch kommen?Wenn man die DDR ausschließlich zum dunklen Kapitel der deutschen Geschichte macht, in dem alles, was passiert ist, als Diktaturerfahrung erklärt werden muss, gehen ziemlich viele Leute verloren. Die denken: Okay, was ich vorher gelebt habe, war falsch. Man kann die DDR nicht nur als dunkle Folie nehmen, um zu sagen: Das haben wir in der Bundesrepublik richtig gemacht. Man muss aus diesen Mustern rauskommen.Sie posten auf Twitter historische DDR-Fotos, vom Leninplatz oder Alltagsgegenständen. Wissen Sie eigentlich, wo beim Trabi der Reservehahn fürs Benzin war?Nö, aber ich weiß, wo er bei der Simson S51 war, die bin ich selbst als Jugendliche gefahren.