Judentum statt Kommunismus: Wieso die Causa Fabian Wolff eine Causa Ostdeutschland ist
Identität Wir können Fabian Wolff dafür verdammen, sich eine jüdische Identität erschwindelt zu haben. Aber woran liegt es, dass die letzten Fälle von „Kostümjudentum“ allesamt mit Menschen im Zusammenhang stehen, die aus Ostdeutschland kamen?
Die Debatte über jüdische Identität in Deutschland ist in vollem Gange
Foto: Unsplash
Die Causa Fabian Wolff erscheint bislang als eine Frage der individuellen Schuld: Hat Wolff sich bewusst eine jüdische Identität erschlichen und damit seine erfolgreiche journalistische Karriere bestritten, wie Mirna Funk in der Faz argumentiert hat? Ist die Causa Fabian Wolff eine neue Causa Claas Relotius, wie zuletzt der Perlentaucher unterstellte, um ihn umgehend zu einem „Fall Zeit online“ zu erklären? Oder ist Fabian Wolffs breit angelegtes Mea Culpa, das vor zwei Wochen in Zeit Onlineerschien, im Wesentlichen glaubwürdig? Ist sein einziges Fehlverhalten, dass er – so schließlich auch der bisherige Tenor des Faktenchecks – den Aussagen seiner Mutter aus dem Bedürfnis, anders sein zu wollen, nur zu gerne glaubte und sie nicht überprüfte, wie es sich doch gehört hätte für jemanden, der mit dieser Identität und von dieser Sprecherposition aus schreibt?
So, wie die Kontroverse bislang geführt wird, ist sie verengt. Indem sie die Causa Fabian Wolff als Frage von individueller Schuld und Unschuld behandelt, verstellt sie den Blick für das Gesellschaftliche. Das ist fatal, denn die Causa Fabian Wolff ist eine Causa Deutschland. Als solche geht sie uns alle an.
Die Causa Fabian Wolff ist zunächst eine menschliche, dann aber auch eine politische Tragödie, weil sie Wasser auf die Mühlen von Antisemitismus und antilink(sliberal)en Rechten ist. Und weil sie sicherlich auch der jüdischen Linken beziehungsweise den linken Israelis in Deutschland erheblichen Schaden zufügt. Es geht allerdings um mehr als diese doppelte Tragödie.
Die Kontroverse um Fabian Wolff ist mit der laufenden Kontroverse um die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann zusammenzuführen, ihre Inhalte sind zusammenzudenken. Denn: Ist es nicht auffällig, dass alle drei, die in den letzten fünf Jahren unter „Kostümjuden“-Verdacht fielen und – mit in einem Fall tödlichem Ausgang – als solche angegriffen wurden, aus Ostdeutschland stammen? Dass sie derselben Alterskohorte junger Ostdeutscher angehören, die in den 1990er und frühen 2000er-Jahren zu sich selbst fanden? Gemeint sind Marie Sophie Hingst (1987–2019), Max Czollek (geboren 1987) und Fabian Wolff (geboren 1989). Sie alle sind Kinder einer Elterngeneration, die in die BRD mit ihren völlig neuen Spielregeln „migrierte“: direkt in die Hände von Treuhand, Privatisierung, Deindustrialisierung, politisch motivierten Entlassungen, Massenarbeitslosigkeit, Umschulung und der Umwertung aller sozialistischen in neoliberale Werte.
Es geht um die Wiedervereinigung
Ich würde die Hypothese wagen, dass die Causa Fabian Wolff eine Causa „Wiedervereinigung“ ist. Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet junge Ostdeutsche sich eine jüdische Identität zurechtlegen (Hingst, Wolff) oder diese ganz reale Identität besonders stark (aus-)leben und dann dafür angegriffen werden, dass sie nach längst überwundenen biologistisch-identitären Kategorien doch eigentlich gar nicht jüdisch seien, weil als Jude doch nur gelten dürfe, wer eine matrilineare Linie vorweisen kann (Czollek)? Was sagt es aus über das Deutschland, in dem sie aufgewachsen sind und leben?
Christa Wolf war überzeugt, dass es keine „Wiedervereinigung“ gegeben habe, sondern einen Beitritt der DDR mit der weitreichenden Entwertung von östlicher individueller Lebensleistung und der Osterfahrung: Polikliniken, weibliche Berufstätigkeit, Kita-System, Schulwesen, östliche Kultur, Literatur und Geschichte. Wer im Westen kennt schon Benno Pludra, Wera Küchenmeister oder Dieter Noll? Wer im Westen war nach der „Wende“ bereit, Franz Fühmann, Hermann Kant und Liselotte Welskopf-Henrich zu lesen? Wem im Westen sagen überhaupt die Namen Kurt Maetzig, Konrad Wolf und Heiner Carow etwas? Und wer im Westen interessierte sich nach 1990 schon für City, Silly und Karat oder gar Gundermann, Reinhold Andert und Barbara Thalheim?Alles, was aus dem Osten kam, sei, so Wolfs Vorwurf, in den Augen des Westens nichts wert gewesen, der Westen habe sich für Osterfahrungen nicht interessiert. Und tatsächlich verschwanden die DDR-Erfahrungen ja auch aus dem öffentlichen Raum. Nicht nur wurden ganz allgemein die Führungspositionen im Osten – Justiz, Verwaltung, Militär, Hochschulen, letztlich auch die Politik, wenn man von ostdeutschen Konservativen wie Joachim Gauck und Angela Merkel absieht – von den „Wessis in Weimar“ (Rolf Hochhuth) übernommen, sondern auch die für die Öffentlichkeit dieser Erfahrung entscheidenden Ostmedien. Im Grunde hat die „Wiedervereinigung“ den Eltern und Großeltern ihre Identität und ein positives Selbstbild geraubt. Erst mit der Anerkennung wenigstens der Alltagsgeschichte der DDR als legitimes Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft vor rund anderthalb Jahrzehnten wurde dies teilweise entschärft. Aber offensichtlich viel zu spät.Opferidentitäten sind karriereförderndDie zentrale Passage in Wolffs Text lautet: „Ich hatte jetzt (…) etwas, was ich über mich selbst erzählen konnte, auch wenn es mein Gegenüber womöglich befremdet, was dann auch oft genug geschah. Ich hatte jetzt eine Geschichte, ich hatte eine Identität.“ Es geht also in der Causa Fabian Wolff um das existenzielle Bedürfnis nach Geschichte und einer positiv besetzten Identität. Die „Wahrheit“ sei, schreibt Wolff, dass „ich eh nichts anderes als Jude sein wollte.“Sicherlich ist es richtig, dass es für die Über- oder Annahme einer jüdischen Opferidentität keine ostdeutsche, ja nicht einmal eine deutsche Biografie bedarf. Ibrahim Böhme, der mit einer jüdischen Identität für die SPD in den neuen Bundesländern kandidierte, war Ostdeutscher, gehörte aber nicht der nachgeborenen Generation an. Wolfgang Seibert, der 2018 als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Pinneberg zurücktrat, als aufflog, dass die Geschichte seines Großvaters als CNT-Spanienkämpfer und Holocaustüberlebender frei erfunden war, war ein evangelisch getaufter Linker aus Westdeutschland. Auch in den USA existiert das Phänomen der überkompensierenden Annahme der Identität von Opfern und sich gegen ihre Unterdrückung wehrenden Minderheiten, die in bestimmten Kreisen der linksliberalen Intelligentsia und unter Bedingungen von positiven Diskriminierungsgesetzen, sprich Quotenregelungen wie „Affirmative Action“, karrierefördernd wirkt. Dies zeigt das Beispiel der amerikanische Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die sich als afroamerikanisch und indigen ausgab.Sicherlich ist es darüber hinaus auch richtig, dass die Suche nach Identitätsstiftendem ganz allgemein in die Zeit der weltanschaulichen und politischen Alternativlosigkeit des Neoliberalismus der 1990er und 2000er-Jahre gehört. Wo Postideologie, ein „Ende der Großen Erzählungen“ oder gar Geschichte proklamiert wird, während zugleich das Leben stetig unsicherer wird, machen sich historisch eigentlich aus dem antimodernen Konservatismus stammendes Identitätsdenken und Identitätspolitik breit. Wo ein letztlich auf Karl Marx zurückgehendes Denken in gesellschaftlichen Verhältnissen und in Prozessen sozialer wie individueller geschichtlicher Entwicklung aus den Universitäten verschwindet, greift in der Intelligentsia und der von ihr geprägten Öffentlichkeit ein neuer Essenzialismus mit rigiden Identitäten und Gegenidentitäten: deutsch/nichtdeutsch, europäisch/nichteuropäisch, demokratisch-westlich-gut/autoritär-nichtwestlich-böse, Mann/Frau, Junge/Mädchen, old white men/FLINTA*, CIS/Queer und so weiter.„Ich bin ein Verlierer, Baby“Von meinen ostdeutschen Freunden und Kollegen habe ich gelernt, dass die junge „Generation Ost“ sicherlich die Ostidentität nicht genauso ausfüllen konnte, wie die elterliche Generation. Die traumatischen Erfahrungen der Eltern sind nicht ihre Erfahrungen. Die Traumata der elterlichen Generation in den 1990er und frühen 2000er-Jahren erlebte sie nur indirekt, etwa durch Abwesenheit, Trennungen, ständige berufsbedingte Umzüge, tiefe Verunsicherung oder Depression der Eltern. Diese junge Generation Ost konnte auch nicht, wie die Eltern, den westlichen Paternalismus und die Scham, ostdeutsch zu sein, in eine Form von trotzigem Stolz, Liebe zum Paria-Dasein verwandeln – inklusive des Wählens der „SED-Nachfolgepartei“ PDS beziehungsweise heute der rechtsextremen AfD. „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler!“, wie die Band Kraftklub auf ihrem Debütalbum von 2012 halb ironisch und zugleich halb stolz sang.Die Eltern konnten nicht aus ihrer Haut, sie konnten auch ihr Leben kaum anders leben, weil altersbedingt die wesentlichen Weichen schon gestellt waren und sich notwendig eine erduldende Fremdbestimmung durch die neuen Spielregeln des kapitalistischen Westens einstellte. Für die Jungen aber, die etwas vom Leben erwarteten, die als Jugendliche nicht eingefahren sind und sich verändern können, galt und gilt das nicht. Das Ergebnis ist der tiefe generationelle Bruch im Osten, den man auch anhand der Strukturen der Linkspartei in den ostdeutschen Bundesländern beobachten kann. Zugleich wurde den Jungen – und ist im Grunde bis heute – kaum die Möglichkeit gegeben, eine andere Identität herauszubilden als die vollständige Übernahme der westlichen und damit zugleich mit ihren „ostalgischen“ Eltern zu brechen, ihnen gegenüber sprachlos zu werden. Und selbst bei diesem Versuch musste (und muss) die junge Generation grosso modo scheitern: Man sollte im Westen ankommen, in den Westen migrieren, war dort aber doch immer wieder der „Ossi“, der „Fremde“ in der „Kalten Heimat“, so wie einst die „Heimatvertriebenen“, die in der Grenzlandzeit deutscher als „die Deutschen“ sein wollten, jetzt aber als „Polacken“ begrüßt wurden. „Ossi“ zu sein war und ist im Westen bis heute ja immer gleich defizitär: irgendwie rechts oder lange Zeit ewiggestrig-sozialistisch, auf jeden Fall Paria, undankbar, ein ungezogenes Kind, skeptische Beäugung und gegebenenfalls volkserzieherische Maßnahmen erfordernd.Die große ReossifizierungIm Grunde ist die Ost-Identität eine – darin hat Dirk Oschmann recht – vom Westen und seinen bürgerlichen Medien zugeschriebene Negatividentität, so wie sie die migrantische und nichtmigrantische Arbeiterklasse auch tagtäglich konfrontiert, wenn sie als „Unterschicht“, „bildungsfern“, „arbeitsscheu“, „integrationsverweigernd“ und „kriminell“ beschrieben wird. Auch sie kann, mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu gesprochen, nur wählen zwischen dem zum Scheitern verurteilten Versuch, unter extremen Anstrengungen die negative Identität abzustreifen und sich der fremden herrschenden Kultur anzupassen, oder sich zu verweigern und das negative Bild, das man von ihr zeichnet, auch ganz und gar auszufüllen, wenn man sich schon dagegen nicht wehren kann. Letzteres erzeugt wenigstens Aufmerksamkeit und verbreitet Angst im Bürgertum.Auch die Jungen konnten und können also als junge Ostdeutsche im Westen nicht ankommen, werden immer als potenziell „gefährliche Klassen“ wahrgenommen und viele werden, wie es ein guter ostdeutscher Freund mal nannte, „reossifiziert“, weil für sie kein Platz in der Bundesrepublik vorgesehen war und ist: kulturell nicht und schon gar nicht in Sachen Eigentumsstrukturen. Aber wenn die junge Generation Ost nun also ihre Kindheit, Jugend, Familie und ihre Ostkultur nicht mitbringen durfte in ihr Leben im „wiedervereinigten Deutschland“, wenn ihnen ostdeutsch zu sein immer als Defizit ausgelegt wird, sie sich immer entschuldigen müssen, aus dem Osten zu kommen, wenn sie im Grunde sich in einem identitären Niemandsland oder Negativland befand (und befindet), ist es dann nicht plausibel, dass Einige für genau dieses Gefühl der Nichtzugehörigkeit, für diese Migrationserfahrung und für die Anerkennung sich eine jüdische Identität suchen (Hingst), die reale jüdische Identität besonders stark machen (Czollek), oder an sie glauben und sie vor sich hertragen und die eigene Kritik der Gesellschaft von diesem Standpunkt aus formulieren, der in unserem heutigen identitären Zeitalter im Gegensatz zur Negatividentität „Ossi“ bei allem sekundären Antisemitismus moralisch anerkannt ist (Wolff) und auch entsprechend Karrieren im liberalen Feuilleton der großen bürgerlichen Westmedien (Zeit, SZ, Deutschlandfunk) ermöglicht?Ist es ein Wunder, dass Kinder aus Ostdeutschland, denen man eine Negatividentität aufzwingt, sich auf die Suche nach einer Positividentität begeben?„Ein klares Dazugehören“ habe es für ihn „nie gegeben“, schreibt Wolff. Sein Grundgefühl sei etwas gewesen, was heute als eine „grundsätzliche ungerührte Feindseligkeit gegenüber Deutschen“ ausgelegt werden würde, worin sich aber doch zugleich, umgekehrt, das Aufwachsen in einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt widerspiegelt.Ist es also ein Wunder, dass Wolff in seinem Wunsch, familiär verwurzelt zu sein, sich an das marginale Jüdische und eben nicht das familiengeschichtlich tatsächlich ja viel bedeutsamere Kommunistische heftete, das aber ja auch abgewickelt wurde?Wolff ließ sich nicht unterdrückenWolff und Czollek stammen beide aus traditionssozialistischen Elternhäusern. Wolffs Mutter und Czolleks Vater, der für die „Vereinigte Linke“ und dann für die PDS kandidierte und über Fragen des Marxismus schrieb, blieben auch nach 1989 Sozialisten und Kommunisten. Weder Fabian Wolff, dessen Text von der Liebe zur aufrechten und aufopfernden Mutter durchdrungen ist, noch Max Czollek brechen ganz und gar mit dieser Tradition und ostbiografischen Identität. Auch Hingst tat das nicht. Aber alle drei wuchsen in dem auf, was Hannah Arendt „Weltlosigkeit“ genannt hat: in einer Welt, in der das bisherige faktische Bezugssystem, in dem sie, so wie ihre Eltern, Fuß gefasst hätten und in dem für sie eine Rolle vorgesehen war, auf einmal nicht mehr existierte.Ist es da also ein Wunder, wenn Wolff sich an die jüdische Identität heftet, das Linke der Mutter als Jüdisch-Linkes fortlebt? Bietet sich die „Jüdischkeit“ nicht gerade als Ausdruck der ostdeutschen Diasporaerfahrung, dem Vertriebensein aus der DDR-Selbstverständlichkeit und dem Leben der Mutter, an? Das „jüdische Leben in Deutschland“ sei beschädigt, schreibt Wolff, und er fügt zwar hinzu: „nicht meins“. Aber es ist wohl nicht ganz zufällig, dass er seinen ellenlangen Aufsatz mit der psychotherapeutischen Praxiserfahrung beginnt.Die Entwicklung der jüdischen Positividentität ist indes die aktive Aneignung einer widerständigen Ostposition. Damit unterscheidet sie sich auch ganz grundsätzlich von der Erzählung Oschmanns, in der der Osten am Ende des Tages bloß Opfer der westdeutschen Konstruktion und passives Subjekt im wortwörtlichen lateinischen Sinne (subiacere: unterwerfen) ist und deshalb die AfD im Vormarsch sei. „Wir waren Teil einer Gegenkultur“, schreibt Wolff, „als Abgrenzung zur Außenwelt (…)“. Mirna Funk hat vor wenigen Jahren in der Zeit sich selbst, Wolff und Czollek als Teil der „dritten Generation (…) der Holocaust-Überlebenden“ bezeichnet und diesen Anspruch, nicht Opfer zu sein, selbst formuliert: Die dritte Generation präge nicht mehr Angst, sondern Wut, das Gefühl, zwar familiengeschichtlich einerseits Opfer, aber eben auch „Siegerenkel“ der Geschichte zu sein: „Denn wir haben den Krieg gewonnen!“.Wenn aber nun die Causa Fabian Wolff eine Causa Wiedervereinigung, eine Causa Deutschland wäre, wenn die Frage, ob der Verdacht der Hochstapelei gegen das Individuum sich erhärtet, falsch gestellt sein sollte, da sie den Blick für das Gesellschaftliche verstellt, ergäbe sich daraus nicht eine ganz andere Frage? Wer trüge dann eigentlich für Täuschung, Vertuschung und das damit verbundene Leid aller Beteiligten wenigstens eine Mitschuld?Die Verantwortung der RedaktionenMit der bloßen Identität als ostdeutsches Kind einer Kommunistin, das mit diesem Erbe nicht ganz und gar bricht, wäre Wolff für Zeit, Deutschlandfunk, SZ und Co. gänzlich uninteressant gewesen. Deren Redaktionen hätten ihm mit dieser Sprecherposition niemals ihre Zeilen geöffnet. Diese Kanäle stehen ja letztlich nicht einmal denjenigen Intellektuellen offen, die heute noch oder wieder – und trotz alledem – in ihren Kreisen federführend über die Marx’sche Frage nachdenken, wie es gelingen mag, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.Ins bürgerliche Feuilleton gelangte Wolff also sicherlich nicht durch seine bloßen unbestrittenen intellektuellen und stilistischen Qualitäten, die viele vorweisen können, sondern über die jüdische Identität. Aber tragen damit nicht auch die Redaktionen wenigstens eine Mitverantwortung, da sie Wolff durch ihre Gatekeeper-Funktion entsprechend einnischten, auf seine Identität, auf der seine Karriere fußte, festlegten und damit das Jüdisch-Identitäre notwendig beförderten? Wir können jetzt das Individuum Fabian Wolff verdammen, so wie es Mirna Funk tut, die ihren Text auf Twitter ankündigte als den „bis dato wichtigste(n) Text meines Lebens“. Aber mir scheint, es bedarf einer Erweiterung des Diskurses und eines Nachdenkens über das Gesellschaftliche, das uns alle betrifft: über die Bedeutung von Identitärem heute, über die Hierarchisierung von Sprecherpositionen und ihre gesellschaftlichen Folgen, über die Zuschreibung von Negatividentitäten, über die „Wiedervereinigung“, über Ostdeutschland, über kollektive Traumatisierung. Denn im Grunde geht es bei der Causa Fabian Wolff um Ostdeutschland. Und damit, weil nach wie vor die Formel gilt „Ohne Osten kein Westen“ (Daniela Dahn), um Deutschland als Ganzes.