Die Lange Nacht der Wissenschaften dient in erster Linie der Öffentlichkeitsarbeit. Verschiedene Institutionen schließen sich zusammen, um jedes Jahr Anfang Juli ein Programm auf die Beine zu stellen, das eine breitere Öffentlichkeit für wissenschaftliche Forschung begeistern soll. Im Fall des Vortrags der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht mit dem Titel „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“, den die Berliner Humboldt-Universität im letzten Moment absagte, ist dies auf ganzer Linie gescheitert.
Der Berliner Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (akj) hatte zu einer Demonstration gegen den Vortrag aufgerufen, da er Vollbrecht Trans-, Inter- und Queerfeindlichkeit vorwirft. Nachdem auch noch eine Gegendemonstration zur Gegendemonstration angekündigt worden war, sagte die Verwaltung der HU den Vortrag wegen Sicherheitsbedenken ab. Die Kontroverse drohe die anderen Veranstaltungen zu überschatten, hieß es.
Vollbrecht steht seit einem Artikel in der Welt vom Juni in der Kritik. Darin äußern sie und ihre vier Co-Autor*innen sich abfällig über die Öffentlich-Rechtlichen. ARD und ZDF leugneten in Sendungen, „dass es nur zwei Geschlechter gibt“. Kinder würden „indoktriniert“ und „aufdringlich sexualisiert“. In Bezug auf diesen Artikel erklärte die HU-Sprecherin Birgit Mangelsdorf, Vollbrechts Meinungen stünden nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von der Universität vertretenen Werten.
Marie-Luise Vollbrecht spricht von „Trans-Hype“ und Cancel Culture
Der RefRat, also die Studierendenvertretung der HU, wies zudem darauf hin, dass Vollbrecht an einem an die Öffentlich-Rechtlichen gerichteten Dossier mitgewirkt hat, in dem „Intergeschlechtlichkeit als krankhafte Störung und trans* Personen als potentielle übergriffige Eindringlinge in Frauenschutzräume“ dargestellt werden. Den RefRat erreichten „viele Nachrichten von Personen, die sich in Lehrveranstaltungen von Frau Vollbrecht nicht sicher fühlen und diskriminiert wurden“.
Vollbrecht ging nicht auf die inhaltliche Kritik ein, sondern griff akj wie HU-Verwaltung scharf an. Bild sagte sie: „Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend.“ Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, schlug sich auf ihre Seite. Zur dpa sagte er, die HU „hätte stattdessen Rückgrat beweisen sollen“. Während wieder mal Cancel Culture diagnostiziert wird, ist der Vortrag längst anderswo zugänglich. Vollbrecht hielt ihn zunächst auf dem österreichischen Youtube-Channel donnasdottir, auf dem sich etwa auch ein Video mit dem Titel „Was macht der Trans-Hype mit unseren Mädchen?“ findet.
Ein paar Tage später veröffentlichte auch die Zeit, was Vollbrecht eigentlich sagen wollte. Vollbrecht führt in ihrem Vortrag Beispiele aus der Tierwelt an, um die These zu bekräftigen, dass es biologisch nur zwei Geschlechter gibt. Warum dies für die Diskussion um Gender, also das soziale Geschlecht, relevant ist, wird nicht klar. Und warum es interessanter ist, sich mit Beispielen aus der Tierwelt zu beschäftigen, als mit betroffenen Personen, etwa Transpersonen im eigenen Seminar, auch nicht.
Der Vortrag wird bei einer Podiumsdiskussion nachgeholt
Der HU-Pressesprecher Boris Nitzsche gab bekannt, die HU wolle den Vortrag nun am 14. Juli im Kontext einer Podiumsdiskussion nachholen, zu der auch Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne) eingeladen werden sollen. Die Medizinsoziologin Dana Mahr sprach sich in der Frankfurter Rundschau dafür aus, unbedingt auch jene zu Wort kommen zu lassen, „die durch Vollbrechts destruktiven Aktivismus zu Schaden gekommen sind“.
Dass der Vortrag abgesagt wurde, trat zwar eine extrem öffentlichkeitswirksame Debatte los, über Wissenschaftsfreiheit, Cancel Culture und die neue Rechte. Doch wissenschaftliche Forschung findet in dieser Debatte keinen Platz mehr. Stattdessen werden politische Argumente ins Feld geführt. Die Frage ist, ob politische Argumente nicht von Anfang an den Biologie-Vortrag mit seinen Beispielen aus der Tierwelt motivierten und ob populärwissenschaftliche Vorträge, wie sie die Lange Nacht der Wissenschaften fördert, immer politische Anknüpfungspunkte suchen (müssen). In diesem Fall leider die falschen. Besonders beschweren sich die über die Absage, die sich auch ansonsten transphob äußern.
Zwar gibt es auch in der Tierwelt durchaus Orientierungspunkte für Trans- und Interpersonen – bei den Seepferdchen werden die Männchen schwanger, Schnecken sind männlich und weiblich gleichzeitig. Geschlechterpolitik biologistisch zu legitimieren, ist jedoch in jedem Fall eine schlechte Idee.
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