Von Hitlers willigem Diplomaten zum Tübinger Oberbürgermeister

Rezension In seiner Dissertation zeichnet Niklas Krawinkel entlang der Biografie des Tübinger Oberbürgermeisters Hans Gmelin ein eindrückliches wie bestürzendes Bild kommunaler Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik.

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Tübingen 1950
Tübingen 1950

Foto: Fox Fotos/Getty Images

Im März 2018 erkannte der Gemeinderat der Stadt Tübingen seinem ehemaligen Oberbürgermeister Hans Gmelin einstimmig die Ehrenbürgerwürde ab. Gmelin, so die Stadtvorderen, "[...]muss nach heutigen Maßstäben als NS-Belasteter gelten". Maßgeblichen Anteil an dieser Entscheidung hatte die Dissertation des Marburger Historikers Niklas Krawinkel, der im Auftrag der Stadt Tübingen über mehrere Jahre hinweg das Leben des Mannes, der zwischen 1954 und 1974 die Geschicke der Neckar-Stadt lenkte, erforscht und insbesondere Gmelins enge Verstrickung in die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus, aber auch seinen sowie den Umgang der Stadtgesellschaft mit diesem hochproblematischen Erbe nach 1945, detailliert nachgezeichnet hat. Das Kondensat dieser Forschungsleistung liegt nunmehr in Buchform vor.

Auf über 500 Seiten durchschreitet Krawinkel in elf zunächst chronologisch angelegten Kapiteln die zentralen Lebensstationen des Juristen Gmelin (1911-1991), den biografischen Ansatz dabei mit Thomas Etzemüller als "Sonde" begreifend, "[...]bei der die Biographie methodisch als >privilegierter Zugangsweg< zu über das Individuelle hinausreichenden Zusammenhängen und Konstellationen dient" (S.19). Im Konkreten erhofft sich Krawinkel durch die Analyse des Wirkens seines biographischen "Sujets" neue Erkenntnisse zu Fragen nach der Anbahnung und Festigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in den anhebenden 1930er-Jahren sowie der sich steigernden und schließlich eskalierenden rassistischen und antisemitischen Gewalt während des Zweiten Weltkrieges. Schlussendlich interessieren Krawinkel diejenigen - auf den ersten Blick widersprüchlich anmutenden- Prozesse, die nach 1945 nicht nur zu einer Demokratisierung, sondern auch zu einer Abwicklung, Verdrängung und Entschärfung der eigenen Mittäter:innenschaft während der NS-Zeit in der Bundesrepublik Deutschland beitrugen (S.33).

Und in der Tat: Hans Gmelins Leben und Wirken - sowohl während als auch nach der NS-Zeit - scheint pars pro toto für einen Teil des gehobenen deutschen Bürgertums zu stehen, der über die Epochenschwellen, die mit den Namen "Weimar", "Potsdam" und schließlich "Bonn" verbunden sind, Einfluss verteidigen und das eigene Handeln immer wieder sowohl praktisch als auch diskursiv rekonfigurieren konnte.

Zwischen SA, Jurastudium und Mittäterschaft in der Slowakei

Gmelin, der als Sohn eines Amtsgerichtsdirektors in die sog. württembergische "Ehrbarkeit" (und damit den wichtigsten Rekrutierungspool der hiesigen höheren Beamtenschaft) hineingeboren wurde, engagierte sich bereits früh in völkisch und nationalistisch ausgerichteten Wehrsportformationen wie dem "Bund Jungdeutschland"(BJD) sowie dem "Jungstahlhelm", bevor er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Oktober 1933 in die SA überführt wurde (S35ff.). Besonders in letztgenannter Organisation sollte Hans Gmelin - aufgrund seiner sportlichen Erfolge, aber auch wegen seines beachtlichen Engagements bei der Schulung der ihm unterstellten SA-Mitglieder - rasch im Ranggefüge aufsteigen und es 1943 gar bis zum "Standartenführer" bringen. Retrospektiv verklärte Gmelin seine SA-Tätigkeit zu einer "unpolitischen" Zeit, die vorrangig im Zeichen sportlicher Ertüchtigung gestanden habe. Damit verharmloste er freilich in eklatantem Ausmaß die formative und vergemeinschaftende Kraft, die der NS-Staat dem Sport beimaß. Dass Gmelin bei diesem Projekt nach 1933 in vorderster Linie zur Schaffung der sog. "Volksgemeinschaft" beitrug, wollte er, der in den 1960er-Jahren bis zum Präsidenten des Württembergischen Landessportbundes aufstieg, nie einsehen (S.127).

Nach erfolgreichem ersten Staatsexamen absolvierte Gmelin schließlich ab 1934 sein Referendariat in Tübingen - unter anderem bei Viktor Renner und Carlo Schmid, die als SPD-Politiker nach 1945 eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland spielen sollten. Beide bescheinigten Gmelin herausragende Leistungen (S.97). In dieser Zeit holte ihn sein Vater für kurze Zeit als Referendar an das von ihm geleitete Tübinger "Erbgesundheitsgericht" (EGG), wo der junge Gmelin sich nunmehr auch in administrativer Hinsicht dem NS-Staat andiente und in mindestens zwei Fällen an Vernehmungen in sog. "Erbgesundheitssachen" mitwirkte - die Konsequenzen konnten in der frühen NS-Zeit für die Betroffenen bis hin zu Sterilisation reichen (S.115f). Ab 1939 begannen die Nationalsozialisten mit der "Aktion T4" schließlich den systematischen Massenmord an Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.

Im Anschluss an seine Tübinger Zeit durchlief Gmelin mehrere berufliche Stationen in Württemberg und sogar bereits im Reichsjustizministerium, bevor er 1938 bei der Annektion des Sudetenlandes als Mitglied des "Sudetendeutschen Freikorps" an zentraler Stelle bei der Expansion des NS-Staates über die Grenzen des Deutschen Reiches hinweg aktiv involviert war (S.141 ff.).

Nach Kriegsbeginn im Jahr 1941 wurde Gmelin schließlich und nicht zuletzt aufgrund seines SA-Engagements vom Gesandten NS-Deutschlands im slowakischen Satellitenstaat und hochrangigen badischen SA-Führer Hanns Ludin als Gesandtschaftsrat an die Deutsche Gesandtschaft nach Bratislava ("Preßburg") geholt (S.159ff.), wo er in der Folge sowohl die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Tiso-Staat und NS-Deutschland sowie die im Holocaust gipfelnde antisemitische NS-Vernichtungspolitik mitverantwortete. Wie weit Gmelins Verantwortung dabei reichte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er es war

"[...]der die letzten Deportationen nach Auschwitz im Herbst 1944 gegenüber der slowakischen Regierung rechtfertigte und trivialisierte, indem er behauptete, die deportierten Juden hätten mit Partisanen in Kontakt gestanden und würden nun im Reich in einer wichtigen Industrie eingesetzt." (S.517)

Krawinkel gelingt es, diese erste Hälfte der Gmelin'schen Biografie nicht nur minutiös zu rekonstruieren (, was ob der mangelnden autobiographischen Überlieferungen ein nicht kleines Verdienst darstellt), sondern sie auch immer wieder an seine theoriegeleiteten Fragestellungen rückzukoppeln. Die verwaltungsförmig organisierte Radikalisierung der NS-Außenpolitik sowie des Holocaust, aber auch die performative Schaffung einer "Volksgemeinschaft" durch Praktiken wie die des Wehrsports, materialisieren sich gewissermaßen in der Person Gmelin selbst.

Nachkriegszeit, Wahl zum Tübinger Oberbürgermeister oder der Vergangenheit die Zähne ziehen

Nach knapp dreieinhalb Jahren als Zivilinternierter in französischen und amerikanischen Lagern gab es für Gmelin wie für soviele andere faktisch NS-Belastete keine "Stunde Null". Durch Protektion seines ehemaligen Vorgesetzten, des mittlerweile zum württembergischen Justizminister aufgestiegenen SPD-Politikers, Viktor Renner, als "Minderbelasteter" eingestuft, konnte Gmelin bereits Ende der 1940er-Jahre wieder als Angestellter im Landwirtschaftsministerium von Württemberg Fuß fassen und von dort aus den nächsten Karrieresprung - nämlich eine Kandidatur anlässlich der Wahlen zum Tübinger Oberbürgermeister im Jahr 1954 - ins Auge fassen.

Krawinkel kann beeindruckend zeigen, wie sich der Oberbürgermeisterwahlkampf schließlich zu einem Plebiszit über den Umgang der lokalen Bevölkerung mit der noch keine zehn Jahre zurückliegenden NS-Zeit entwickelte. Gmelin verstand es im Gegensatz zu seinen Mitbewerbern, seine eigene Rolle in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ebenso geschickt wie offensiv zum Wahlkampfthema zu machen. Dass dabei in bemerkenswerte Weise Eingeständnisse politischer Irrtümer mit der bewussten Verschleierung schuldhaften Handelns und dem Appell an eine neue Demokratisierung amalgamieren konnten, mag eine Bemerkung aus einer Gmelin'schen Wahlkampfveranstaltung beispielhaft zeigen:

"Ein Bekenntnis zu Fehler [sich!] und Irrtümern ist keine Schande. Daß ich persönlich Unrecht getan hätte, wirft mir niemand vor und kann mir auch niemand vorwerfen. Verwahren muß ich mich aber gegen die Unterstellung, ich hätte aus der Vergangenheit nichts gelernt. Jeder einsichtige Mensch hat erkannt, daß eine autoritäre Staatsform verhängnisvoll ist, und daß die demokratischen Freiheiten und Regeln Voraussetzung für ein gedeihliches politisches Leben auf allen Ebenen sind. Wenn ich mit Recht in dem Verdacht stünde, noch immer innerlich dem Nationalsozialismus oder seinen Methoden anzuhängen, hätten mich wohl kaum so anerkannte Demokraten wie der Wirtschaftsminister Wildermuth und Dr. Veit zu wichtigen Aufgaben in ihren Ministerien herangezogen." (S.359)

Wie anschlussfähig dieses Narrativ dabei an ein weit verbreitetes Bedürfnis innerhalb der Bevölkerung nach einem Schlussstrich unter die NS-Zeit war, illustriert Krawinkel unter anderem am Umgang mit den oppositionellen Stimmen innerhalb der Tübinger Stadtgesellschaft, die vor einer Wahl Gmelins warnten. Ihnen warf man wahlweise undemkokratisches Verhalten, Uninformiertheit oder aber spalterische Tendenzen vor. Der wohl prominenteste Kritiker des Kandidaten Gmelin, der Tübinger Theologieprofessor Gerhard Ebeling, erhielt gar private Zuschriften, die mit Gewaltandrohungen und antisemitischen Ressentiments gespickt waren (S.369ff.).

Am Ende setzte sich Gmelin schließlich durch und konnte das Amt des Tübinger Oberbürgermeisters über 20 Jahre lang bis ins Jahr 1974 bekleiden. In der analytischen Durchdringung verschiedener Beispiele aus seiner Amtszeit belegt Krawinkel wie das politische Handeln ebenso wie die Amtsführung Gmelins geprägt war von einem Neben-, Mit- und Übereinander von verharmlosender Thematisierung der Vergangenheit (, in der bspw. die Opfer der NS-Vernichtungspolitik und die breite Mittäter:innenschaft der Deutschen nicht vorkamen), tatsächlicher Überwindung bestimmter in der NS-Zeit internalisierter Denkweisen sowie der Entpolitisierung problematischer Verwaltungsabläufe oder Entscheidungen im Kontext seiner Sportfunktionärstätigkeit, die letztlich aber auf nichts anderes hinausliefen als die Fortschreibung nationalsozialistischer Verhaltensweisen und Denkstrukturen in neuem - dieses mal demokratischen - Gewand(S.379ff.)

Vor diesem Hintergrund ordnet sich Niklas Krawinkels verdienstvolle Studie zunächst ein in ein breites Feld an ähnlich gelagerten Arbeiten, die entlang einzelner Akteursbiografien bis heute virulente Diskurse einer "Stunde Null" und einer "Erfolgsgeschichte Bundesrepublik" zum Mindesten relativieren, ohne sich jedoch in diesen bereits bekannten Befunden zu erschöpfen. Denn gerade dort, wo Krawinkel die vielfältigen Mechanismen und Praktiken des Verdrängens und "Entschärfens" der NS-Zeit im Nachkriegsdeutschland am Beispiel Gmelin bebildert, fügt er der aktuellen Forschungsdebatte wichtige neue Aspekte hinzu. Entgegen des häufig zu beobachtenden kollektiven "Beschweigens" konnte, das zeigt Gmelins Leben so bedrückend wie deutlich, auch das offensive Thematisieren des eigenen Anteils am NS-System in ein breit anschlussfähiges Entschuldungsprojekt münden und einer als Ballast empfundenen Vergangenheit die vermeintlichen Giftzähne ziehen.

Krawinkel, Niklas: Belastung als Chance. Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2020.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Häfner

Historiker, Büroleiter Bodo Ramelow in der Thüringer Staatskanzlei

Johannes Häfner