Europa - Alter Mythos neu erzählen

Glasgow ade In der kulturellen Entwicklung Europas war das Wörter-Puzzle schon immer Passgeber für jedwede Erfindungen in Sachen Politik, Wirtschaft und Kultur - Irren ist menschlich war da leider nur immer eine bequeme Floskel. Neue Wörter müssen her!

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Europa – Meditation # 296 14-11-21 Ein alter Mythos neu erzählt.

Die Europäer hatten schon immer eine Menge Phantasie. Vor langer Zeit erfanden sie sich nicht nur all die Wörter, um das Dauerfeuer auf ihre Sinne in ihrem Gehirn scheinbar zu bändigen und zu entzaubern, nein, sie erfanden auch ein Gesellschaftsspiel, dass den Mann zum Herrn über die Frau verewigen sollte – die Patrix. Passend dazu natürlich auch einen unsichtbaren Gott, der ihre Erfindungen erst ermöglicht habe. Da sie sich nicht nur an die Macht ihrer Wörter und ihres unsichtbaren Gottes, sondern auch an die über das andere Geschlecht gewöhnten und ihre Wahrnehmungen als Wahrheiten postulierten, lieferte ihnen das Wort „Natur“ alle Antworten für alle Fälle. Der Name Europa stand dabei für „die Weitsichtige“, sie war überwältigt und vergewaltigt worden – nun standen die Männer sehnsüchtig an Europas Gestaden und segelten neugierig los in die weite Welt.

Ihre Sicherheit im Umgang mit ihren erfundenen Begriffen brachte sie so weit, dass sie Dinge zu erfinden verstanden, die durch bloßes Nachdenken und durch Versuche zu erstaunlichen Ergebnissen führten, die ihnen das „Recht“ gaben einer scheinbar grenzenlosen Inbesitznahme von Welt und fremden Kulturen und Menschen. Längst war vergessen, dass alle Vorstellungen von sich und der Welt wortreiche Erfindungen waren, die nur oft genug wiederholt worden waren, um nicht mehr bloß als Vorstellungen zu gelten, sondern endlich auch als unumstößliche Wirklichkeiten, Gesetzmäßigkeiten, denen sich anzupassen, bzw. zu unterwerfen, wahre Freiheit bedeutete.

Viele Jahrhunderte lang legte sich dann das Netz dieser klugen Worterfinder über den Rest der Welt. Ihre Erfolge schienen ihnen Recht zu geben: Ein Weltreich von Europa aus kontrolliert, der Reichtum zu Hause prachtvoll ausgestellt in Architektur, Kunst und Mode. Man(n) wurde nicht müde, solche Herrschaft als gottgewollt (manifest destiny) herzuleiten, Ausbeutung und Unterdrückung der betroffenen Kulturen waren so also auch kein moralisches Problem und das erfundene Gesellschaftsmodell aus Griechenland (auch dort durften nur die wohlhabenden Männer wählen und mitbestimmen, Sklaven und Frauen waren „natürlich“ draußen vor) – die demokratia – passte wunderbar zu diesem Bereicherungs- und Vernichtungsmodell: wieder liefern die Wörter – in einer Endlos-Werbeschleife – den Text zur natürlichen Herleitung solcher unnatürlichen Verhältnisse.

Aber ein Fremdwort liefert nun die Bezeichnung für die Bruchstelle im Wortsystem der Europäer: Der B u m e r a n g.

Wortgebilde wie Klimawandel, Umweltschmutz, Arten Sterben, Pandemien fallen nun auf ihre Erfinder und Verursacher zurück. Weder der ehemals so mächtige unsichtbare Gott, noch die uneinsichtigen Männer selbst mögen allerdings solche einer neuen Erzählung europäischer Geschichte folgen.

Doch da erscheint auch der Name Europa – die weitsichtige – in neuem Bedeutungslicht: Der alt gewordene Selbstbetrug, der den Wortbau zu Babel zum Einsturz bringt, ist auf weite Sicht ein eher peinliches Auslaufmodell scheppernder Worthülsen geworden. Und die neuen Wörter, die die Europäer nun erfinden müssen, werden alle jenseits der Matrix Patrix zu bilden sein: sehr weiblich, sehr langsam, sehr geduldig und sehr mitverantwortlich für eine Umkehr, zu der es keine wirkliche Alternative mehr gibt – es sei denn: Die Männer kneifen die Augen zu, halten die Luft an und stürmen dann brüllend wie verrückt gewordene Bonobos los – wohin auch immer und wozu auch immer, jedenfalls erbärmlich kopf- und wortarm: „Lügen, nichts als Lügen!“ In diesen verzweifelten Slogan wollen sie sich flüchten, längst wissend, dass es eine ziemlich ungemütliche und fatale Sackgasse geworden ist!
Mehr Phantasie als je ist angesagt – ganz neue Wörter gilt es einzuüben, jetzt!

Wenn wir nicht wie Lemminge alle in den Abgrund rennen wollen, hat das Warten auf frohe Botschaften von oben keinen Wert mehr. Das gute Gefühl, das sich mit den neuen Wörtern und Vorstellungen bei jedem von uns einstellt, ist der Gradmesser für die Möglichkeit eines Auswegs aus der selbstverschuldeten Untergangsperspektive; Zahlen und Tabellen sind da nur wie Nebelkerzen – Intuition und Bauchgefühl sprechen dagegen eine wohltuend rettende Sprache. Wir Europäer müssen sie jetzt lernen – und zwar in einem Schnell-Kurs! Konferenzen wie die in Glasgow sind da nur noch peinliche Beispiele für unangebrachte Sandkastenspiele.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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