Reportage Das Grenzregime der USA setzt auf Abschreckung. Die Beamten müssen sich dem verschreiben oder sind fehl am Platz. Johannes Streeck erzählt die Geschichte von Jenn Budd, die irgendwann keine Migrant*innen aus Mexiko mehr jagen wollte
Die weitläufigen Wüstengebiete an der Grenze zwischen Mexiko und den USA werden heute von Drohnen und Heißluftballons überflogen
Foto: Guillermo Arias/AFP/Getty Images
Der kleine Ort Vail im US-Staat Arizona liegt am östlichen Rand der Sonora-Wüste, einem gigantischen Gebiet, das sich im Westen bis nach Kalifornien und im Süden weit in das angrenzende Mexiko erstreckt. Eine Region, die im Vergleich zu anderen Trockengebieten der Welt durch eine hohe relative Feuchtigkeit geprägt ist. Die jährlichen Monsunregen speisen die großen Saguaro-Kakteen, deren Silhouetten denen von Menschen mit ausgestreckten Armen ähneln, und deren Umrisse weltweit die Etiketten von Produkten zieren, denen ein Western-Flair anhaften soll.
Kampfjets und Drohnen
Zwischen Vail und der nächsten Großstadt Tucson verläuft der Highway 10, eine mehrspurige Hauptverkehrsader im Süden der USA. Zwischen Felsen und den üppigen Gew
üppigen Gewächsen am Straßenrand fallen die Fahrzeuge der Border Patrol mit ihrer grünen Bemalung erst bei einem zweiten Blick auf. Die Jeeps der Grenzschutzbehörde patrouillieren auch hier, gut hundert Kilometer vom nächsten Grenzübergang nach Mexiko entfernt. Entlang von Autobahnen und kleineren Ausfallstraßen bilden sie nur den sichtbarsten Teil eines Überwachungssystems, das sich der US-Staat allein im vergangenen Jahr über eine Milliarde Dollar kosten ließ. Die weitläufigen Wüstengebiete werden von Kampfjets, Drohnen und Heißluftballons überflogen, die Täler sind von versteckten Sensoren und Kameras überwacht. Beamte des Grenzschutzes bewegen sich teilweise sogar auf dem Pferd durch die Wüste, um Schmuggler und Migranten vom Überqueren der Grenze abzuhalten.Trotz des immensen Aufwandes der US-Regierung bleiben große Abschnitte der Demarkationslinie zu Mexiko relativ durchlässig. Da im Umfeld von Großstädten wie El Paso in Texas und San Diego in Kalifornien mittlerweile hohe Zäune und gefängnistypische Wachtürme stehen, wird die Grenze vermehrt in unwirtlichen, dazu gefährlichen Wüsten- und Berggegenden fernab der Ballungsräume überschritten. Das ist kein Zufall. Mit „Deterrence“ (Abschreckung) sind die Maßnahmen überschrieben, mit denen seit Mitte der 1990er Jahre versucht wird, Migranten in immer unzugänglicheres Terrain abzudrängen, was Konsequenzen hat. „Die Sonora-Wüste ist ein Massengrab“, resümiert Jenn Budd knapp drei Jahrzehnte der Abschreckung. Die energische Amerikanerin lebt in San Diego und gehört zu einem losen Netzwerk von Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen, das die Arbeit der Border Patrol kritisch beobachtet.Was Jenn von vielen ihrer Mitstreiter unterscheidet, ist der Umstand, dass sie selbst sechs Jahre lang die olivgrüne Uniform der Grenzpolizei getragen hat. Im schroffen Gelände des kalifornischen Südens wurde Jenn Budd ausgebildet, „um Menschen zu jagen“, wie sie heute sagt. Sie lernte das Lesen von Spuren, sie war in der Lage, frische von alten Fußabdrücken zu unterscheiden und Migranten beim Versuch der Grenzüberquerung zu verhaften. Jenn ist schonungslos, wenn sie ihre Zeit bei der Border Patrol rekapituliert. In ihrem 2022 erschienenen autobiografischen Buch Against the Wall beschreibt sie, wie sie Migranten gedemütigt, geschlagen und rassistisch beleidigt hat. „Ich wollte mich freiwillig einer Organisation anschließen, von der weiße Herrschaft angebetet wird. Dafür übernehme ich Verantwortung.“Budds Erinnerungen sind nicht allein die Chronik einer reuigen Täterin. Sie beschreiben eindrucksvoll, wie sie selbst Opfer von Gewalt an der Grenze wurde. Als sie mit Mitte 20 in eine Ausbildungseinheit kam, war sie eine von wenigen Frauen, die von der Behörde für die Schulung aufgenommen wurden. Nur gut fünf Prozent der „Agenten“, wie die Beamten in der Behördensprache hießen, seien zu diesem Zeitpunkt weiblich gewesen, schätzt Jenn Budd. Schon am ersten Tag wurde sie von einer Kollegin vor den Männern an der Akademie gewarnt. Sie solle es vermeiden, mit den Kollegen Alkohol zu trinken, zu feiern oder mit ihnen auszugehen. Zu groß sei das Risiko eines sexuellen Übergriffs. Frauen würden bei der Border Patrol von manchen als persönliches Eigentum betrachtet, wird ihr gesagt.Sie versucht, sich gegen Übergriffe zu schützen, aber wird dann doch wenige Wochen nach Ausbildungsbeginn Opfer einer Vergewaltigung auf dem Trainingsgelände. Was ihr geschieht, wird von den Ausbildern nicht geahndet – im Gegenteil. In Against the Wall beschreibt Budd, wie sie die Trainer und männlichen Kollegen nach der Tat verhöhnten. Mit dem blauen Auge und den Blessuren, die sie erlitten hatte, musste sie am nächsten Tag gegen den Vergewaltiger beim Selbstverteidigungstraining antreten.In den folgenden Jahren bei der Border Patrol sollte Jenn Budd angesichts der homophoben und sexistischen Kultur der Behörde als lesbische Frau immer wieder Ziel von Anfeindungen sein. Als sie drohte, die korrupten Machenschaften eines Kollegen aufzudecken, ließ der sie mit einem Dienstwagen anfahren. Den Dienst zu quittieren, hieß, am Leben zu bleiben.Nach ihrer Zeit an der Grenze brauchte Budd Jahre, um mit der eigenen Traumatisierung klarzukommen. Nach einem Suizidversuch, den sie überlebt, beginnt sie, ihre Jahre in Uniform aufzuarbeiten. „Danach bin ich einfach in die Heime und Auffanglager gegangen, um Migranten zuzuhören“, erzählt sie. „Ich erlebte Zeiten, in denen ich so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl mit denen empfand, die durch den Grenzschutz Gewalt erfahren hatten.“ In Gesprächen hätten die Betroffenen zum Ausdruck gebracht, sie sei doch selbst ein Opfer der Border Patrol. „Das war sicher richtig, nur hatte ich mich denen freiwillig angeschlossen, Gewalt gegen Menschen ausgeübt und meinen eigenen Schmerz an ihnen ausgelassen.“Wie Jenn Budd hat auch „Michael“, der so genannt werden möchte, seine Erfahrung mit den Gefahren an der Grenze. Der Mittvierziger arbeitet in einem Geschäftsviertel von Mexiko-Stadt. In einem breiten amerikanischen Englisch berichtet er, mit 15 Jahren in Arizona das erste Mal über die Grenze gegangen zu sein. „Der Schmuggler hat uns gesagt, es werde drei bis vier Stunden dauern.“ Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Am Ende hat meine Gruppe drei Tage und vier Nächte gebraucht.“ Wie viele Migranten, die den Süden der USA erreichen, hat er lange in der Landwirtschaft gearbeitet, in seinem Fall als Pferdetrainer im Staat Missouri. Die US-Landwirtschafts- und Lebensmittelbehörde USDA schätzt, dass rund drei Viertel aller Arbeiter ihres Sektors nicht aus den Vereinigten Staaten kommen. Ohne die unterbezahlten, oftmals undokumentierten Arbeitskräfte aus dem Ausland wären viele Agrarbetriebe womöglich nicht profitabel.16 Jahre hat Michael in den USA gelebt und gearbeitet. Wegen kleinerer Delikte wurde er dreimal abgeschoben. Bei einer solchen „Deportation“ verhängen die zuständigen Richter zumeist eine Strafzeit, in der Verurteilte nicht wieder in die USA einreisen dürfen. Bei Michael waren es zuletzt 50 Jahre. Dass er in Missouri eine Familie hat, interessierte das Gericht dabei wenig.Wenn er müsste, könnte er jederzeit die Grenze überqueren, sagt Michael. Daran würden hohe Grenzzäune nur wenig ändern, allerdings sei es sehr viel teurer geworden. „Ich müsste zwischen 10.000 und 15.000 Dollar an die Schlepper zahlen, um rüberzukommen.“ Das ist im Schnitt das Zehnfache dessen, was die Dienste der „Kojoten“ früher gekostet haben. Vor allem aber seien es inzwischen die Drogenkartelle, die das Geschäft an der Grenze kontrollieren. „Wenn ich ein großes Paket Gras mit rübertrage, ist es umsonst“, sagt Michael, der ein solches Risiko nicht eingehen möchte. „Sonst habe ich keine andere Wahl, als mich bei einem der Kartelle zu verschulden, um das Ganze zu bezahlen.“Nie mehr legalMichael ist gerade seit einem halben Jahr in Mexiko-Stadt. An das Leben in der Stadt gewöhnt er sich noch, genauso wie an den neuen Job in einem Imbiss, den ihm ein Verwandter besorgt hat. Unter den derzeitigen Bedingungen glaube er nicht, bald wieder zu versuchen, in die USA zu kommen. Er hofft nun, dass seine Tochter ihn bald besuchen kann. Sie hat US-amerikanische Papiere, Michaels Ex-Frau auch. Sollte es keine frappierenden Veränderungen bei den Gesetzen geben, die über das US-Grenzregime entscheiden, wird Michael zu Lebzeiten nie mehr legal einreisen können, um seine Familie zu sehen.Dass sich US-Regierungen zu einer humaneren Grenzpolitik durchringen, ist unwahrscheinlich. Nachdem sich Joe Biden während des Wahlkampfes 2020 von der zutiefst rassistischen Rhetorik Donald Trumps distanziert hat, führt er nun im Stillen dessen Kurs entlang der Grenze weiter. Das unter Trump erlassene Pandemie-Gesetz „Title 42“, das vielen Asylbewerbern den Weg in die USA verwehrt, wird unter dem demokratischen Nachfolger immer wieder verlängert.
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