Wir in der Sonne ihres Sterbemonats

Nachruf Die Lyrikerin Sarah Kirsch ist tot. Von nun an nie wieder einen neuen Vers von ihr zu lesen – heilloser Schrecken
Ausgabe 22/2013
Sarah Kirsch (1935-2013)
Sarah Kirsch (1935-2013)

Mitte der neunziger Jahre erwarb ich ein Exemplar von Sarah Kirschs Gedichtband Rückenwind aus einer Grabbelkiste. Erstausgabe, 1976, für drei Mark. Ich las und erinnerte mich plötzlich, wie ich mir vor ungefähr hundert Jahren mein späteres Leben vorgestellt hatte. Mein Zuhause wäre Berlin. Ost, versteht sich. Von meiner Wohnung aus im siebzehnten Stock eines Hochhauses an der Spree würde ich, in Möwengesichter blickend, dichten. Das Leben wäre nicht leicht. „Die Wohnwabe ist grauenhaft im Sommer, grauenhaft im Winter.“ Vor allem aber wäre ich verstrickt in Zweifel, die Politik und meinen Staat betreffend. „Wie soll das weitergehen mit mir und dem Arbeiterland“, würde ich mich ständig fragen. Hin und wieder würde ich reisen. „Ein paar offizielle Schafsköppe stehen meinem Vorhaben wohlwollend gegenüber… Die zukünftigen herrlichen Gedichte werden ganz Oben geplant, das ist das Revolutionäre hier an der Kunst. Ich glaube, dass ich diesmal in den Süden gelange. Es wäre eine Art verzweifelte Gemütlichkeit, in der mich „mein kleines wärmendes Land“ gefangen hielte, solange bis ich es nicht mehr aushielte und für immer wegginge, Richtung Westen. Ein schrecklicher Schritt, aber kein so schrecklicher, dass ich mein neues Dasein als Exil bezeichnen müsste. Bloß ein Umzug. Und ein Triumph: Mein Herkunftsland, die DDR (die sogenannten Verhältnisse!) wäre keine zwingende Bedingung für mein Schreiben. Ich würde einfach weiterdichten, ohne Bitterkeit. Was nur wahre Dichter tun.

Sarah Kirsch ist tot. Gestorben im Alter von 78 Jahren am 5. Mai 2013 in Schleswig-Holstein. Dort hat sie gelebt, in einem kleinen Schulhaus hinterm Deich, nachdem sie 1977 im Zuge der Biermann-Ausbürgerung die DDR mit ihrem Sohn für immer verlassen hatte. Ihr erster Gedichtband Landaufenthalt erschien 1967 im Aufbau-Verlag. Und in dem steckte schon der ganze herrliche poetische Eigensinn, der sie so unverwechselbar gemacht hat. Melancholisch und widerborstig, märchenhaft und zugleich konkret politisch, extrem subjektiv und auf eine ganz unsentimentale Weise naturselig. Für Sarah Kirsch gehören die Wörter „volkseigen“, „Stiefmütterchen“, „Wels“ und „Schlächterei“ durchaus in dasselbe Gedicht. Der beständige Bruch in ihren Texten entspricht dem Riss, der durch unsere Welt geht. Ihre Reaktion darauf: das Erhabene, Heilige, Sehnsüchtige stets und sogleich profanisieren, durch Ulk, eine Schnoddrigkeit oder absichtsvolle Rechtschreibfehler. Woraus eine neue Poesie entstand: „Schlag mir auf mein Sitzfleisch wirf mich/ Auf ein Fahrrad und jag mich nach Zeuthen.“ Nie habe ich einen schöneren Liebesantrag gelesen.

Ende der neunziger Jahre bei einer Lesung im Wilhelmshorster Huchel-Haus wirkte sie müde und trotzig. Befragt zu ihrer politischen Haltung, der Position den ehemaligen Schriftstellerkollegen aus der DDR gegenüber, sagte sie, sie wolle nicht mehr mit diesen Leuten sprechen, mit den Volker Brauns, den Christa Wolfs. Da rede sie doch lieber mit ihren Meerschweinchen. Punkt. Ihre Art der „Kritik an den Verhältnissen“ war die Verwandlung der Welt durch Wörter, indem sie die sogenannte Realität anders ansah und sie so für die Länge eines Verses hinfällig machte. Von nun an nie wieder einen neuen von ihr zu lesen – heilloser Schrecken.

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Zuletzt erschienen von ihr die Romane Selbstporträt mit Bonaparte (Piper 2012) und Mit der Geschwindigkeit des Sommers (Piper 2009)

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