Die Groteske der Mindestlohnkommission und das Jammern über die AfD

Demokratieunzufriedenheit Zwischen dem AfD-Erfolg und dem desolaten Beschluss der Mindestlohnkommission besteht ein Zusammenhang. Anstatt AfD-Wähler*innen zu erklären, sie seien antidemokratisch, sollte endlich soziale Politik für die Menschen durchgesetzt werden.

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Gerade veröffentlichte das Else-Frenkel-Brunswik-Institut (EFBI) der Universität Leipzig unter dem Titel „Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie“ die Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Erhebung in den ostdeutschen Bundesländern zu Demokratieunzufriedenheit und rechtsextremen Einstellungen. Bekannte Befunde wurden bestätigt, so beispielsweise die hohe Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen in den ostdeutschen Bundesländern, worunter Ausländerfeindlichkeit als Einzelmerkmal besonders heraussticht. Dass dort traditionell rechtsextreme Parteien ein hohes Wähler*innenpotenzial haben, ist einleuchtend – nun profitiert davon die Alternative für Deutschland (AfD), die das ideologische Angebot bereitstellt, das laut Studien wie der des EFBI in der Bevölkerung verankert ist.

Diese Studie wird veröffentlicht zu einer Zeit, zu der man sich im politischen und medialen Betrieb schockiert über die Landratswahl im thüringischen Sonneberg zeigt, bei der ein AfD-Kandidat im zweiten Wahlgang mit absoluter Mehrheit zum Landrat gewählt wurde. Nicht weniger schockieren die Umfragewerte der AfD, die sie bundesweit meist als zweitstärkste Kraft hinter der Union sehen und in Sachsen, Thüringen und Brandenburg teils sogar als stärkste Partei – in Bundesländern, in denen rechtsextreme Einstellungsmuster besonders verbreitet sind. Der Schock über solche Ergebnisse und Zustimmungswerte für eine zweifellos rechtsradikale Partei, die starke Anleihen am Nationalsozialismus nimmt, ist angemessen. Insofern ist hier zunächst einmal einzuräumen: Ja, natürlich wird die AfD auch von Leuten gewählt, die in das rechtsextreme Profil der Rechtsaußenpartei passen. Aber mit der Empörung über die vermeintlich antidemokratischen Haltungen der Menschen machen es sich viele politische und mediale Akteure zu einfach. Die EFBI-Studie verweist auch auf Befunde, die in der Demokratie- und Partizipationsforschung heutzutage eigentlich Konsens sind: Die Bevölkerung ist mehrheitlich von Demokratie als Idee überzeugt, jedoch erleben sie vom demokratischen Ideal wenig bis nichts in ihrem Alltag. Mehrheiten fühlen sich macht- und einflusslos. Daraus resultiert dann auch, dass nicht eine abstrakte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ der Bezugspunkt vieler Menschen ist, sondern so etwas wie „autoritäre Staatlichkeit“ – in der Hoffnung, so die eigene (materielle) Sicherheit zu garantieren bzw. wiederherzustellen. An Demokratie zu glauben bedeutet, an das Individuum und dessen Handlungsfähigkeit sowie an die Gleichheit der Individuen zu glauben. Wenn einem die realexistierende Demokratie diesen Glauben nimmt, stattdessen die Sicherheit des materiellen Lebens gefährdet ist, dann ist Sympathie für autoritäre Verheißungen naheliegend.

Von diesen aktuellen Geschehnissen ausgehend möchte ich zwei bekannte Thesen stützen: Erstens hat das gefühlte Nicht-Gehört-Werden auch mit einem faktischen Nicht-Stattfinden im demokratischen Prozess zu tun. Besonders eklatant ist die Abgeschiedenheit vom politischen System in den abgehängten ländlichen Regionen, von denen es in den ostdeutschen Bundesländern viele gibt. Zweitens würde eine partizipativere, inklusivere und sozialere Politik die Zufriedenheit mit dem politischen System und den Glauben an die Demokratie mit großer Sicherheit stärken. Denn Menschen müssen zum einen erfahren, dass sie in einem System leben, in dem sie nicht aufgrund politischer Maßnahmen existenziell gefährdet werden, und zum anderen eigene politische Handlungsfähigkeit wahrnehmen können.

Dass nichts davon bei politischen Entscheidungsträger*innen anzukommen scheint, lassen die kürzlich verkündeten Beschlüsse der Mindestlohnkommission vermuten. Diese beschloss nämlich gegen die gewerkschaftlichen Stimmen, dem Arbeitsministerium einen Mindestlohn vorzuschlagen, der nicht einmal einen Inflationsausgleich darstellt. Dieses Ereignis hängt paradigmatisch eng zusammen mit dem AfD-Erfolgskurs und verrät Schlimmes über die politische Lage in Deutschland. Statt sich jetzt nur noch um die AfD zu kümmern und ihr die volle Aufmerksamkeit zu schenken, sollte man sich zuerst damit beschäftigen, sinnvolle soziale Politik für die Menschen zu gestalten und zum Beispiel stärkere Löhne durchzusetzen als es die Mindestlohnkommission empfiehlt. Derart verachtungsvolle Signale, wie sie von den Arbeitgeberfraktionen kommen, befördern den Aufstieg der neuen Faschist*innen.

Mindestlohnerhöhung als Reallohnverlust: Das Elend der Mindestlohnkommission

Es stimmt nicht optimistisch für die Zukunft, wenn es politisch offenbar nicht einmal durchsetzbar oder gewollt ist, einen Mindestlohn einzuführen, der Inflation und Reallohnverluste ausgleicht.

Mit Spannung wurde die Einigung der Mindestlohnkommission für die neuen Mindestlohnerhöhungen 2024 und 2025 erwartet; meistens hörte man im Vorfeld Spekulationen im Bereich zwischen 13 und 14 Euro. Je näher der Termin rückte, desto mehr Vorbehalte und Skepsis machten sich breit – zu bedeckt hielten sich die beteiligten Akteure, als dass eine sozial gerechte Lösung mehrheitsfähig im Raum stünde. Aber dass der Beschluss tatsächlich besagt, der Mindestlohn solle ab 2024 auf gerade einmal 12,41 Euro steigen und ab 2025 dann auch 12,82 Euro war dann doch ein Schock für Gewerkschaften und die fast sechs Millionen Beschäftigten im Mindestlohnbereich, für die das einen krassen Reallohnverlust bedeutet. Die Steigerungen belaufen sich jeweils auf nur knapp über 3 %. Die Vorschläge der Kommission werden von der Bundesregierung per Verordnung umgesetzt werden. Damit ist nicht einmal ein Inflationsausgleich geschaffen worden, wofür eine Steigerung auf mindestens 13,50 Euro erforderlich gewesen wäre. Außerdem – darauf weist der Deutsche Gewerkschafsbund (DGB) hin – muss bis Ende 2024 die EU-Mindestlohnrichtlinie umgesetzt werden. Diese besagt, dass „der Mindestlohn mindestens 60 % des mittleren Einkommens betragen muss.“ Demnach müsste eine Erhöhung auf 14 Euro erfolgen. Also: Die Kaufkraft der Beschäftigten im Niedriglohnbereich wird weiter zurückgehen, deren Lebensstandard weiter sinken. Millionen Menschen werden immer weiter abgehängt – wirtschaftlich, sozial und im Endeffekt auch politisch. Denn es ist wieder einmal das Zeichen: Ihr seid egal. Ein politisches System, dessen Legitimation zu schwinden scheint, wird so nur noch schwächer.

Einer knappen Mehrheit der Mindestlohnkommission ist das offensichtlich egal, so wie es auch für Mehrheiten im Bundestag gilt (Union, AfD, FDP). Die drei Vertreter*innen der Gewerkschaftsseite stimmten gegen den Vorschlag: Robert Feiger (Vorsitzender IG BAU); Stefan Körzell (Mitglied im Bundesvorstand DGB); Andrea Kocsis (stellv. Bundesvorsitzende Verdi). Überstimmt wurden sie von den drei Vertreter*innen der Arbeitgeberseite und der Vorsitzenden der Kommission, der Juristin Christiane Schönfeld. Sie unterstützte den Vorschlag der Betriebswirtin Brigitte Faust (HR bei Coca-Cola; Präsidiumsmitglied der BDA, u. a. auch Aufsichtsratsmitglied bei Pfizer), Steffen Kampeters (CDU-Mitglied, war lange Mitglied im Bundestag und auch Staatssekretär im Finanzministerium, nun Hauptgeschäftsführer der BDA; findet, die Leute sollen einfach „mehr Bock auf Arbeit“ haben und nicht so viel Geld fordern) und von Karl-Sebastian Schulte (Geschäftsführer des ZDH und des UDH). Eines der beiden beratenden wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission ist ausgerechnet Christian Lindners persönlicher Berater und neoliberaler Chefökonom Lars Feld, der einmal mehr seine menschenverachtende Linie durchsetzen konnte. Steffen Kampeter sprach im Zuge der Beschlüsse von „staatspolitischer Verantwortung“, die man so zum Ausdruck bringe.

Die Kapitalfraktionen machen die Menschen kaputt, sie machen die Demokratie kaputt. Lars Feld und Steffen Kampeter – ja, sie sind Feinde einer Gesellschaft, in der Menschen frei und gleich sein können.

Salonfähige Nazis, der AfD-Erfolg und elitäre Ratlosigkeit

Auch deshalb sind in Teilen des Landes offene Nazis salonfähig – nicht, weil die Menschen alle Nazis sind, sondern weil tatsächlich große Teile der Gesellschaft ignoriert, zurückgelassen und unverstanden bleiben. Sonneberg in Thüringen ist ein Beispiel dafür. Kurz gesagt: Wenn niemand – und gerade in den ostdeutschen Bundesländern hatte man in den vergangenen Jahren Regierungsbeteiligungen quasi aller nennenswerten Parteien außer der AfD – es vermag, eine Politik zu gestalten, die an den Lebensrealitäten der Menschen orientiert ist, deren materielle Grundlage verbessert und sie in den demokratischen Prozess einbindet, dann wählt man halt die, die bisher aus der Übernahme politischer Verantwortung konsequent ausgeschlossen und als Nazis bezeichnet werden, denn die anderen haben schon enttäuscht. Wenn man kein Vertrauen mehr in die Parteien und ihr Personal hat, warum sollten einen deren Warnungen vor der AfD noch kümmern? Und dann wird einem gesagt, das sei antidemokratisch. Wenn man seine Stimme bei den Falschen macht, passt das also nicht in die Demokratie derjenigen, die einen enttäuschen. Dass die gängige Allparteien-Argumentation gegen die AfD nicht überzeugend ist für Leute, die sich im politischen System nicht ernstgenommen fühlen, sollte nachvollziehbar sein.

Es ist richtig, dass in diesem Land strukturell rassistische, sexistische und weitere diskriminierende Elemente den politischen Betrieb und die Gesellschaft mitprägen. Aber nicht mitgenommen und vom versprochenen Glück der Demokratie ausgeschlossen sind weit größere Teile der Bevölkerung. Einkommen, Kontostand, Wohnort, Job und Lebensweg sind in großem Maße determinierend für die Rolle, die man im politischen Entscheidungsprozess und in den Inhalten der Politikgestaltung hat. Das Gefühl, für „die Politik“ unsichtbar zu sein ist leider nicht falsch. Die Fehleranalyse bei den Regierungsparteien, besonders bei SPD und Grünen bedeutet aktuell, sich zu fragen, ob man vielleicht einfach nicht gut erklärt. Berufspolitiker*innen denken, es gehe hier tatsächlich einfach um Narrative, anstatt die eigenen politischen Prämissen in Frage zu stellen. Ja, Erzählungen zu haben, die verfangen, ist wichtig. Aber es gibt einen Schritt davor: Bevor man am Narrativ arbeitet, muss man an der Politik arbeiten und soziale Politik haben. Ohne eine starke wohlfahrtsstaatliche Basis ist Antifaschismus wenig überzeugend. Im Sinne eines ehrlichen Antifaschismus brauchen wir also soziale Politik für die Massen und die Wenigen.

Die Landratswahl in Sonneberg zeigt deutlich, was auch schon vorher eigentlich hätte klar sein müssen: Allparteien-Koalitionen gegen die AfD sind nicht die Lösung. Wen soll das denn auch als politisches Konzept überzeugen? Das Einzige, was wir versprechen und machen können, ist nicht mit der AfD zu koalieren? Wow! Das ist Stillstandspolitik, nervig und für die meisten Menschen schädlich. Womöglich wollen viele Leute auch Akteure in der Politik haben, von denen sie noch hoffen, dass diese ihre Lebenssituation verbessern. Also verfängt es, wenn dann einer (wie in Sonneberg) mit den großen Affekten kommt: „Gegen die da oben“ ist überzeugend, denn es macht Hoffnung. „Die da oben“ aus dem Fernsehen sind weit weg und kennen nicht die Lebensrealitäten der Bevölkerung. Wer das Gefühl vermitteln kann, „einer von uns“ zu sein, hat Chancen.

Aber nein, nicht allein das geplante „Gebäudeenergiegesetz“, mit dem sich die Regierungskoalition jetzt über Wochen blamiert hat, ist der Grund für den Aufwind für die AfD – diese alberne Behauptung muss man den konservativ-reaktionären Kräften in diesem Land nicht abnehmen. Das Versagen liegt im Agieren aller etablierten Parteien und sonstigen politischen Akteure. Die CDU will das Gendern verbieten, denn das sei schuld am Aufstieg der AfD – solche Thesen sprechen für vollständige Resignation. Man solle mehr über innere Sicherheit reden als über Gendersternchen. Was spricht dagegen? Leider redet gerade die Union nur noch über Gendersternchen. Ja, Friedrich Merz ist gescheitert mit seinem Plan, die AfD zu schwächen. Er hat sie nicht halbiert, sondern hilft dabei mit, sie zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Nicht nur der Hass auf die Grünen, den die Union mitschürt, stärkt die AfD, auch nicht nur die ganzen Allparteienkoalitionen gegen die AfD, die zu radikaler Politikverweigerung in den Ländern führen, stärken die AfD. Auch die verzweifelte reaktionäre Offensive der Union selbst stärkt die AfD. Es gibt nur noch Kulturkampf. Der vollständigen Resignation ergeben fügt man sich dem rechtsradikalen Kulturkampf, den sie sich alle von den US-Republikanern abgucken. Man wirft den Grünen vor, eine Verbotspartei zu sein, ist es aber selbst. Und man kommt mit absurden Ideen wie per Zwang Patriotismus zu verordnen. Alles ist Kulturkampf. Der Erfolg der Rechtsradikalen ist zum einen darin begründet, dass sie alles als Kulturkampf fassen und damit punkten – auch mit Forderungen, die dem „Volk“ schaden. Die Argumentation – das Narrativ – ist kulturalistisch und verfängt. Es ist das Aufbegehren gegen den Westen, gegen die globalistischen Eliten der etablierten Weltordnung. Deshalb Meloni, Höcke, Trump, Erdogan, Putin usw. Zum anderen liegt ihr Erfolg in dem eingangs ausgeführten Mangel an sozialer Politik und demokratischer Einbindung.

Was nun?

Und – das ist die schmerzhafteste Erkenntnis für Linke – zwar glaubt niemand mehr so richtig an den Kapitalismus, aber es kann sich auch niemand eine Welt ohne ihn vorstellen. Auch das führt dazu, dass linke Utopien (mit einer ökonomischen Grundlage) keinen Anklang finden – nicht einmal in vermeintlich linken Spektren. Das gilt auch für vermeintlich radikale Segmente, die sich antikapitalistisch nennen. Ökonomische Konzepte jenseits des Kapitalismus haben auch sie nicht. Warum sollte man sich also von linken Parteien Veränderung versprechen?

Was nun? Es bleibt zu betonen, dass die unsozialen Beschlüsse der Mindestlohnkommission, die in fatale Politik übergehen werden, zu skandalisieren sind. Es darf nicht immer um die AfD gehen und um blinde „Strategien“, wie man ihre Wähler*innen zurück in ein diffus „demokratisch“ genanntes Lager holt. Macht eigene, gute Politikangebote! Alles, was gerade passiert ist das Gegenteil.

Wir sehen immer klarer, wie wichtig es ist, Kapitalismus und Demokratie zu trennen und dass Demokratie vor Kapitalismus zu beschützen ist. Wir sehen doch, dass wir in der realexistierenden liberalen, parlamentarischen Demokratie nur immer wieder die Sachverwalter des Kapitals wählen und keine politischen Gestaltungsoptionen. Und dennoch fehlen die Visionen in Vielem. Wir sind an einem Punkt, an dem demokratisierende Reformen, die mehr Menschen inkludieren und partizipieren würden und Maßnahmen, die Ungleichheit abbauen oder zumindest nicht verschärfen, bereits revolutionär erscheinen. Revolutionärer Reformismus als Utopie? Ist das das Elend, in dem wir leben? Ich fürchte, dass es so ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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