Die staatskonforme Klima-RAF

Die Letzte Generation Der zivile Ungehorsam der Aktivist*innen der „Letzten Generation“ wird medial und politisch delegitimiert. Jedoch sollten wir ihn besser unterstützen, wenn uns Demokratie und das Leben künftiger Generationen ein Anliegen sind.

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Die intellektuellen Speerspitzen des Landes freuen sich, da sie endlich wieder wen gefunden haben, den sie als „neue RAF“ oder „Terroristen“ bezeichnen können. Gemeint sind damit natürlich nicht Neonazis und Rechtsradikale, die man vielleicht irgendwann nochmal als Verbündete brauchen könnte. Stattdessen trifft die Diffamierung (vorwiegend) junge Aktivist*innen, die sich mit einem Thema auseinandersetzen, dass – so beteuern es alle immer wieder – allen Parteien, Kommentatoren und Fernsehtalkshow-Gestalten wahnsinnig wichtig ist: Klimaschutz.

Nun hat man sich medial darauf geeinigt, die „Letzte Generation“ – besser bekannt als die „Klimakleber“ – ins Visier zu nehmen und dafür zu sorgen, deren Aktionen für nicht tolerierbar zu erklären. Die Letzte Generation ist ein Bündnis, dass seit 2022 verschiedene Aktionen zivilen Ungehorsams in Deutschland[1] durchführt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und letztendlich die Regierung zu einem Handeln zu bewegen, zu dem sie sich weitgehend sowieso verpflichtet hat. Sie seien die letzte Generation, die noch den „Klimakollaps“ aufhalten könnte, da die Überschreitung verschiedener Kipppunkte im Erdklima drohe. Nachdem die „Fridays for Future“ und die meisten aktivistischen Gruppen in den vergangenen Jahren noch sehr moderat in der Wahl ihrer Mittel waren (Demonstrationen, Petitionen) und die bürgerliche Gesellschaft sich darüber empörte, dass die Kinder mal lieber in die Schule gehen sollten, wird es bei der Letzten Generation im Namen und im Handeln handfester: Die letzte Generation, die noch der Situation angemessen handeln können wird – danach wird es zu spät sein.

Ja, ein bisschen Apokalyptik muss schon sein und im Kern geht es um nichts anderes als bei vorangegangenen Protestphänomenen aus dem Bereich Umwelt- und Klimaschutz: Es gilt die Erde so zu erhalten, dass auf ihr auch zukünftige Generationen von Menschen noch leben können, und zwar lebenswert. Es geht um das offensive Einklagen von Zukunft. Und kann es da nicht auch im parlamentarisch-rechtsstaatlich verfassten Kapitalismus richtig sein, einen formal illegalen Kampf für die legale Durchsetzung des Notwendigen zu führen?

Warum der Protest?

Die Forderungen der Letzten Generation sind allesamt harmlos, niemand fordert die Abschaffung der Bundesrepublik Deutschland. Stattdessen sollen Klimavereinbarungen eingehalten werden und nötige Maßnahmen ergriffen werden, um das Schlimmste noch gerade so zu vermeiden. Ein großer Wandel steht an, ein politischer und ökonomischer Wandel, der das gesellschaftliche Leben verändern wird – aber wenn das nicht geschieht, wird es keine Gesellschaft mehr geben. Die Kosten für diesen Wandel sollen übrigens nicht die Arbeitenden tragen, stattdessen müssten Einkommens- bzw. Vermögensstarke an den Kosten beteiligt werden, fordert die Letzte Generation. Umverteilung – ok, das dürfte bei einigen Personen in der Regierung maximale Empörung auslösen, aber ja: daran, diejenigen, die vom jetzigen Zustand profitieren, zur Mitwirkung daran zu verpflichten, auch anderen ein gutes Leben zu ermöglichen, wird man nicht vorbeikommen. Außerdem fordern sie Schuldenerlass und Entschädigung für Staaten des globalen Südens – sie wollen die Hauptverursacher (z. B. Deutschland) in die Pflicht nehmen! Und dann gibt es noch solch ebenfalls nicht unbedingt protorevolutionäre Forderungen wie ein Tempolimit 100 und das 9-Euro-Ticket. All das sind Punkte, die in einer „liberalen Demokratie“ ganz normale und ziemlich unkontroverse Aspekte eines Regierungsprogramms sein sollten und es in guten Teilen sogar sind. Also warum der Protest? Weil all das eben nicht umgesetzt wird.

Es geht um den Erhalt der Menschheit, um einen gut belebbaren Planeten auch für zukünftige Generationen. Wie ein taz-Artikel kürzlich aus einem der vielen Prozesse, die gerade geführt werden, einen Aktivisten vor Gericht zitierte: Wir seien „auf dem Highway zur Klimahölle unterwegs“, „mit dem Fuß auf dem Gaspedal“ – damit zitierte der Aktivist wiederum UN-Generalsekretär Antonio Guterres. Und all das gefährde auch noch die Demokratie, denn wenn die Temperaturen steigen und die damit verbundenen Folgen eintreten, wird es ungemütlicher und konfliktiver, dann hält keine Demokratie mehr. Menschen leiden bereits unter den Folgen des Klimawandels: Dürre, Ernteausfälle, Wasserknappheit, Überschwemmungen. „Wir leben in einer Welt, in der 2050 Zweidrittel unserer Ernten wahrscheinlich ausfallen werden“, erklärt Carla Hinrichs (eine der Sprecherinnen der Letzten Generation) bei Anne Will. Hunger, Armut, Flucht, Kriege, Verelendung. Deshalb Protest. Das Klimapaket der Bundesregierung wurde vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt; Begründung: Das Leben zukünftiger Generationen werde nicht angemessen geschützt. Der Klimaprotest hat diese Entscheidung auf seiner Seite!

Systemkonformer Extremismus?

Die Forderungen von der Letzten Generation sind systemkonform und ihre Adressierung ist es sowieso: Sie fordern von der Regierung bzw. von der parlamentarisch organisierten Politik, zu handeln. Sie trauen es dem politischen System offensichtlich zu. Der System Change ist nicht die Forderung (im Sinne eines Umsturzes der parlamentarischen Demokratie). Wie der Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang auch sagte: Wenn die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ infrage gestellt wird, ist von Extremismus zu sprechen und das tut der Protest nicht. Sie fordern von der Regierung Handeln, respektieren also das System.

Sie kleben sich fest auf Straßen und Flughafenlandebahnen, sie blockieren Autobahnzufahrten, bewerfen gut geschützte Gemälde mit KARTOFFELBREI und kleben sich daneben fest. Sie containern und zeigen sich selbst dafür an, um auf die groteske Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen. Es ist ziviler Ungehorsam, es sind zum Teil Straftaten. Der zivile Ungehorsam sei eine „demokratische Pflicht“, heißt es von Aktivist*innen. Solche Aktionen werden gewählt, weil der herkömmliche, legale Protest ja ganz offensichtlich keine Wirkung hat! Und Straßenblockaden seien nicht zu ignorieren.

Dafür kann man sich auch mal wegen Nötigung verurteilen lassen – aber wie lange will der Rechtsstaat das für den richtigen Weg halten? Wie lange sollen die Falschen bestraft werden? Das Unvermögen der Politik, wirksam auf den Klimawandel zu reagieren, ist gefährlich – nicht der Protest.

Es geht hier um Handeln im Notstand und das setzt gewisse Regeln außer Kraft, besonders wenn die Politik in Gestalt von Regierungen in eine autoritativ-ignorante Verweigerungshaltung geht. Wir bewegen uns auf einen Zustand zu, der mit dem Oxymoron „Dauerausnahmezustand“ demokratischer Politik[2] relativ gut beschrieben ist: Wir haben multiple Krisen, die politisch aufgrund der Modi ihrer Bearbeitung zu demokratischen Krisen führen bzw. einer Suspendierung der Demokratie durch die vermehrte Nutzung autoritärer Techniken. Damit verbunden ist eine Abkehr der Bürger*innen von DIESER Demokratie. Diese Abkehr findet ihren Ausdruck in Wahlabstinenz oder der Wahl protofaschistischer Parteien, die eine Stärkung des Volks versprechen. Ganz anders verhalten sich Gruppierungen wie die Letzte Generation: Sie wollen die Demokratie sogar stärken, wollen mehr Einbeziehung der Bürger*innen und wollen überhaupt eine Welt, in der Menschen noch demokratisch organisiert sein können. Sie wollen Systemerhalt. Ziemlich staatskonform, dieser Extremismus.

Was ist die Alternative?

Diese Form des Protests sei dem Ziel des Klimaschutzes abträglich. Das sagen auch mehrere Regierungsmitglieder. Aber was ist ihr Gegenvorschlag, wenn sie doch alle hinter den Forderungen stehen? Was dem Klimaschutz tatsächlich abträglich ist, das ist die Politik der Regierung, das ist die Politik, die auch die Grünen immer und überall mittragen und gestalten, wenn sie regieren. Man hat in Deutschland eine Mehrheit in der Bevölkerung, die findet, dass mehr Klimaschutz nötig ist, aber die Aktionen der Letzten Generation gehen für eine noch größere Mehrheit zu weit. Wenn es tatsächlich eine Mehrheitsmeinung ist, dass mehr Klimaschutz nötig ist, dann müsste die Unterstützung für radikalen Protest ebenso mehrheitsfähig sein.

Vor wenigen Wochen war Carla Hinrichs zu Gast in einer der schlimmsten Sendungen des deutschen Fernsehens (bei Anne Will) und machte sie für eine Stunde zur besten Sendung des deutschen Fernsehens. Denn sie erklärte es einem großen Publikum noch einmal klar und deutlich: In den letzten Jahren wurden alle (legalen) Mittel genutzt und probiert. Weil nichts geschieht und wir uns auf eine Klimakatastrophe hinbewegen, beruft sie sich zu Recht auf eine lange Tradition zivilen Ungehorsams, der funktionieren und schnellen Wandel herbeiführen kann. Und Carla Hinrichs fragt Anne Will völlig richtig – weil diese wissen will, warum man keinen konstruktiveren Weg finde: „Haben Sie eine Idee, wie wir diese Regierung jetzt zum Handeln bewegen? Wenn Sie eine haben, bin ich dabei.“ Und das ist genau der Punkt! Denn: Wozu haben die legalen Mittel geführt? Na also.

Leute machen diese ach so skandalösen Aktionen, weil sie verzweifelt sind. Es sei ein „Akt der Verzweiflung“. Und dafür werden sie nun weggesperrt.

Der Protest muss weiter gehen!

In ihren „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“[3] verweist Judith Butler darauf, dass es manchmal „um das Handeln selbst“ geht „und darum, mit dem Handeln die Macht zu beanspruchen, die man braucht. Das ist […] eine Möglichkeit, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu agieren.“ (S. 79-80) Und die Letzte Generation oder junge Menschen an sich befinden sich – auch in Deutschland – in der prekären Situation, keine Rolle zu spielen, nicht gehört zu werden, nichts ändern zu können. Um das zu ändern, um sich also Machtanteile zu holen, ist Handeln nötig – eigenes, auffälliges Handeln. Es geht damit auch darum „Rechte zu beanspruchen, wenn man keine hat.“ Denn: „Wir müssen nicht nur leben, um handeln zu können, wir müssen auch handeln, politisch handeln, um unsere Existenzbedingungen zu sichern.“ (S. 80) Und so ist zu erkennen, dass bisheriges Handeln nicht wirksam ist, um eben die Existenzbedingungen tatsächlich zu sichern. Protest – radikaler oder ungehorsamer Protest stößt in neue Dimensionen politischen Handelns vor, um genau das zu tun.

Der Staat täte gut daran, den zivilen Ungehorsam der Letzten Generation nicht juristisch zu verfolgen, sondern stattdessen politisches Versagen in puncto Klimaschutz stärker anzuprangern. Und wenn nicht, muss der Protest dennoch weitergehen, so widerständig und ungehorsam wie jetzt, oder auch noch weitergehender. Auf der Straße drückt sich, so Butler, jener „Teil der Volkssouveränität“ aus, der „unübersetzbar, nicht übertragbar“ auf elektorale Macht, also Wahlergebnisse bleibt (S. 211). Das heißt auch: Wenn die Regierenden nicht handeln, muss man nicht bis zur nächsten Wahl warten, um anders zu wählen – zumal es erstens keine Option im Parteiensystem gibt, angemessenen Klimaschutz zu wählen und zweitens manche Aktivist*innen aufgrund von Staatsbürgerschaft oder Alter gar nicht wählen dürfen. Protestieren und ungehorsam sein bedeutet, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, sich einzumischen, die Deliberation aufrechtzuerhalten.

Noch geht es medial weitgehend um die Diskussion der Pseudofrage des angemessenen Protests. Aber währenddessen wächst der Druck auf die Regierung. Und wenn nichts geschieht, abgesehen von der Kriminalisierung der „Klimakleber“, dann wird es heftiger, dann wird der Protest radikaler und dann wird die Unterstützung auch der Form des Protests steigen. Die staatskonforme Klima-RAF sollte und wird weitermachen und das ist gut so.

[1] und Österreich, aber in vielen Ländern gibt es ähnliche bzw. vernetzte Gruppen.

[2] Felix Heidenreich (2022): Frankreich als Exempel. Vom ökologischen Notstand zum politischen Ausnahmezustand? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2022, S. 77-82, hier: S. 82.

[3] Judith Butler (2018): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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