Die Liebeshandlung (28 - 149) || Überschätzt: Mitchell G.

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Dieser Text ist Teil eines Projekts: Wir lesen gemeinsam Die Liebeshandlung von Jeffrey Eugenides

Auf Seite 110 kündigt der kleine graue Punkt einen Perspektivwechsel Richtung Mitchell Grammaticus an. Zeit, sich diesen Burschen mal genauer anzuschauen.

Mitchell haben wir bereits ganz zu Anfang so kennengelernt: Mitchell, mit seinen großen, gefühlvollen Augen, blinzelte zweimal. Er trug ein altmodisches Gabardinenhemd, eine dunkle Wollhose und ausgebeulte Budapester. Madeleine hatte ihn noch nie in Turnschuhen oder Tennissocken gesehen.(S. 28)

Während sie[Madeleine] ihn [Mitchell] in seiner Altmännerkleidung von der Theke aus dabei beobachtete, wie er Alton und Phyllida ins Gespräch verwickelte, dachte sie das Gleiche, was sie früher schon so oft gedacht hatte: dass Mitchell genau der Typ des kluge, vernünftigen, Eltern entzückenden jungen Mannes war, in den sie sich verlieben und den sie heiraten sollte. Dass er gerade deshalb, wegen seiner Eignung, niemals der Mann zum Verlieben und zum Heiraten sein würde, war bei allen Störfällen dieses Morgens nur ein weiteres Zeichen dafür, wie hoffnungslos verkorkst sie in Herzensangelegenheiten war. (S. 30)

Gut, dieses Sie-sucht-sich-immer-die-falschen-Kerle-aus Ding ist weithin verbreitet. Aber Mitchell soll der Richtige sein? Schon die Hintergrundgeschichte von Madeleine und Mitchell ist kompliziert und eher wenig „klug und vernünftig“:

Eines Abends im letzten Dezember war Madeleine, in einer Art Torschusspanik um ihr Liebesleben, Mitchell auf dem Campus in die Arme gelaufen und hatte ihn mit nach Hause genommen. Aus einem Bedürfnis nach männlicher Aufmerksamkeit hatte sie, ohne es sich richtig einzugestehen, mit ihm geflirtet. Später, in ihrem Zimmer, hatte Mitchell eine Dose tiefenwirksames Wärmegel auf dem Tisch entdeckt und gefragt, wofür das gut sei.( S. 28 f.)

Kränkungs-Marathon

Weitere Zusammenfassung: Madeleine wird pampig, Mitchell schmiert sich das Zeug hinters Ohr, Madeleine wird sauer, Mitchell macht ein betroffenes Gesicht als würde er jeden Moment anfangen zu weinen, es tut ihm unglaublich leid aber Madeleine wirft ihn raus (um ihn loszuwerden und zu vertuschen, dass sie vorher mit ihm geflirtet hatte). Daraufhin schreibt er ihr einen langen Brief , „höchst detailliert, stichhaltig begründet und psychologisch scharfsinnig“. Darin beschreibt er sie als „Anmach-Zicke“. Zugespitzt: beide sind auf pubertäre Art und Weise verunsichert und beleidigt. (Und hier muss ich Magda recht geben – die „Anmach-Zicke“ und ihrevermeintliche Verkorkstheit scheint mir schon eine sehr männliche Sicht auf die Situation zu sein.) Bei ihrer erneuten Begegnung kurz vor der Abschlussfeier geht es beinahe nahtlos weiter: Mitchell ist gekränkt, und kränkt Madeleine, die ihn daraufhin als Wichser beschimpft.

Es ist nie sehr komisch, Wichser genannt zu werden. Es war noch weniger komisch, von einem Mädchen, das man besonders gern mochte, Wichser genannte zu werden, und erst richtig unangenehm war es, wenn dieses Mädchen ausgerechnet diejenige war, die man insgeheim heiraten wollte.(S.111)

Auch im Folgenden wird immer wieder explizit bestätigt: Mitchell will Madeleine mit Leib und Seele. Aber der schüchterne Kerl sagt ihr das kein einziges Mal. Stattdessen wiederholt er beständig das Jesusgebet und kann Franny Glasses religiöse Verzweiflung, „ihren Rückzug vom Leben, ihre Verachtung für Institutionsmenschen gut verstehen.(S. 112) Das macht ihn eher zu einem weltabgekehrten Einsiedler als zu einem Charmebolzen.

Irgendwie schmierig statt charming

Das charmanteste, was Mitchell von sich gibt, ist eine Zitat aus Ulysses. Er hinterlässt Madeleine die Nachricht an ihrer Zimmertafel, nachdem sie ein gemeinsames Wochenende bei ihren Eltern verbracht hatten, ohne dort zueinander zu finden. „Dann barst die Leuchtkugelröhre auseinander und es war wie ein seufzendes O! Und alles schrie O! und O! In Verzückung und es ergoss sich daraus ein Strom goldregnender Haarfäden...“ […] Auf ihre Tafel hatte jemand, mit einem Pfeil zu seine, Joyce-Zitat geschrieben: „Wer ist der Perversling?“(S. 125)

Die Frage ist berechtigt: Mitchells drückt seine explizite und verschwenderische Lust auf Madeleine aus in dem symbolträchtiger und etwas versauter Verweis auf einen explodierenden Feuerwerkskörper aus. Vielleicht geht es ihm doch mehr um Sex als um Liebe, und um das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, welches Eugenides merkwürdigerweise nur Madeleine zuschreibt.

Nach seinem Misserfolg mit Madeleine wendet er sich nach dem ersten Semester jedenfalls anderen Frauen zu.

In der sexuellen Collegehierarchie rangierten männliche Erst- und Zweitsemester ganz unten.[…] Zum Glück ging das erste Collegejahr irgendwann zu Ende.Als Mitchell im Herbst zurückkehrte, war da eine völlig neue Schar Erstsemsterstudentinnen, von denen eine, eine Rothaarige aus Oklahoma, im Frühjarssemester seine Freundin wurde.[…] Als die Oklahomerin sich von ihm trennte, ging Mitchell mit anderen Mädchen aus und schlief mit wieder anderen, ließ die Zonen der Entbehrung hinter sich. Seine Niederlage [bei Madeleine] hatte eine ungeheure Wirkung. Er verschwand in der Versenkung, um sich die Wunden zu lecken. Sein Interesse am Quietismus war schon vorher da gewesen, und so gab es nach dieser neuen Schlappe [Madeleine ist inzwischen mit Leonard zusammengekommen] nichts, was ihn davon abhalten konnte, sich vollends in sich selbst zurückzuziehen.( S. 147 ff.)

Sobald er Madeleines Zärtlichkeiten einem anderen Mann gegenüber wahrnimmt, degradiert er sie als dumm: Momentan hatte er seine Hand gefühlvoll in der Gesäßtasche seiner Jeans. So schlenderten sie einher, jeder griff sich eine Handvoll vom anderen. In Madeleines Gesicht stand eine Dummheit, die Mitchell noch nie an ihr gesehen hatte. Es war die Dummheit aller normalen Leute. Die Dummheit der Reichen und Schöne, derer, die im Leben bekommen, was sie bekommen wollten, und darum unscheinbar blieben. (S. 126)

I couldn´t help it wonder: misst Mitchell hier mit zweierlei Maß und stellt dabei seinen patriarchalisch geprägten und verletzten Stolz stets vorne an? Und verkennt er dabei nicht seine eigene Unzulänglichkeit, aus der er den Ausweg und Gerechtigkeit in spirituellen Exkursen sucht? Kurzum: ist das wirklich Liebe oder nur ein Ego-trip?

Pikant wird meine leichte Mitchell-Antipathie (und um es vorwegzunehmen, ich bin Leonard-Fan), wenn man auf Wikipedia liest: Die Literaturstudentin Madeleine wird von zwei Kommilitonen umworben: dem manisch-depressiven Leonhard und dem Studenten Mitchell, der in seiner biografischen Beschreibung dem Autor ähnelt.

Schocking. Mitchell soll doch hoffentlich nicht der heimliche Antiheld sein!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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