Lineares Medium: Gegen die Entwirklichung

Weltradiotag 2016 Der 13. Februar ist Weltradiotag. Ein Plädoyer fürs internationale Radio.

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Eine Programmstunde bei RAE, dem argentinischen Auslandsradio, beginnt entspannt: dem Zeitsignal zur vollen Stunde und der Anmoderation folgt erst einmal ein - vorzugsweise ruhiger - argentinischer Song. Nach den Nachrichten, also etwa zwanzig Minuten nach der vollen Stunde, darf es dann auch schon einmal argentinischer Punk oder Metal sein, aber es überwiegen Lieder und Tangos.

Das gilt für alle Sprachdienste, vom japanischen um zwei Uhr morgens MEZ über den französischen (03:00), englischen (04:00) und chinesischen (05:00), und ebenso für den deutschsprachigen Dienst abends um 22 Uhr MEZ. Hörbar in unterschiedlicher Tonqualität in der zweiten Nachthälfte auf 11711 kHz, und abends auf 15345 kHz, oder auch per Livestream.

Und da der Fortschritt auch vor den Auslandsradiodiensten nicht haltmacht, kommt noch ein "Facebook"-Auftritt hinzu. Ein Beitrag zur von Georg Seeßlen in der aktuellen "Freitag"-Ausgabe diskutierten Entwirklichung der Welt allerdings wäre das nicht; es sei denn, musikalische Wiedergabelisten oder Programmvorankündigungen fielen in diese Kategorie.

https://justrecently.files.wordpress.com/2014/12/hamburger_lokalradio_qsl.jpg?w=561Es ist nicht die Deutsche Welle, aber es ist ein Kurzwellensender aus Deutschland

Ganz ähnlich präsentiert sich der Auslandsdienst von All India Radio (AIR). Hier werden zur vollen Stunde ein Nachrichtenblock und ein Kommentar oder eine Presseschau gesendet; danach folgen aber klassische hindostanische Musik oder auch Bollywood-Mucke. Spätestens ab 21:45 Uhr ist der englischsprachige Dienst gut auf 9445 kHz zu hören - oder wiederum parallel zu den jeweiligen Kurzwellensendezeiten auch als Livestream.

Bei AIR allerdings wird ein Trend spürbar, den man wohl in Branchenkreisen als "Professionalisierung" bezeichnen würde, der aber dem Charme des zwanglosen Programm-Machens einigen Abbruch tut. Ein mathematisches Kulturprogramm ist letzthin aufgenommen worden, eine regelmäßige Cricket-Revue in Zusammenarbeit mit der australischen ABC und der britischen BBC, und auch Tourismuswerbung tritt in Erscheinung.

Über das permanente Eindreschen des indischen Auslandsfunks auf Pakistan in den Nachrichten- und Kommentarblöcken soll nicht gemeckert werden; das ist all-indischer Brauch seit Menschengedenken, und nur fürs Hörervergnügen leistet sich kein Staat der Welt einen Auslandssender. Internationales Radio soll das Image des sendenden Landes fördern, und möglichst auch seine Auslandsgeschäfte.

Ganz rustikal und technisch traditionsverhaftet tritt hingegen just das pakistanische Auslandsradio auf: die tagsüber auf Urdu, Chinesisch und Englisch verbreiteten Kurzwellensendungen sind zwar akustisch durchaus hörbar, ihre Modulation aber derart schlecht, dass sich die Inhalte in vielen Fällen nicht einmal mehr erraten lassen. Nur die zum Schluss gespielte Nationalhymne ist eindeutig als solche erkennbar.

Sowohl auf Kurzwelle als auch per Internet - Website und Podcasts - lässt sich Radio Taiwan International (RTI) hören. Für gewöhnlich wird über einen Kurzwellensender im britischen Woofferton ein deutschsprachiges Programm für Mitteleuropa ausgestrahlt (zur Zeit auf 3955 kHz); einmal im Jahr gönnt man den Technikbegeisterten unter den Hörern aber auch Direktsendungen aus Taiwan, üblicherweise an mehreren Tagen in Folge.

Von allen hier genannten Kurzwellensendern ist RTI wohl der ambitionierteste: die Wortbeiträge überwiegen deutlich. Die Musikauswahl in der verbleibenden Sendezeit ist mal chinesisch, mal taiwanisch, mal aboriginee. Das Anliegen des auf Chinesisch nicht Radio Taiwan, sondern Zentrales Radio genannten Senders, der sich erst nach der Flucht der Republik China nach Taiwan mehr und mehr zum Auslandsdienst entwickelte, dürfte nicht zuletzt darin bestehen, die Weltöffentlichkeit auf die Existenz des Inselstaats aufmerksam zu machen, mit einem Programm, das sowohl Politisches als auch Wirtschaft und Kultur abdeckt.

Ein kulturelles Qualitätserlebnis, so vor über siebzig Jahren der Pfarrer und Theologe Dietrich Bonhoeffer, bedeute

die Rückkehr von Zeitung und Radio zum Buch, von der Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum Maß.

Das Radio galt Bonhoeffer als Massenmedium, im Gegensatz zum Buch. Das mag in dem Sinne verschärft der Fall gewesen sein, als Zeitungen und Radio Anfang der 1940er Jahre nicht nur Medien einer Massengesellschaft im allgemeinen, sondern einer totalitären Massengesellschaft im besonderen waren.

Aber die Abstufung erscheint mir relativ. Verglichen mit einer mönchischen handschriftlichen Kopie wäre auch ein Buch ein Massenmedium, und umgekehrt ist das Radio ein lineares Medium, im Gegensatz zu den meisten Internetmedien.

Diese Linearität mag man als ein Kennzeichen der Massengesellschaft per Klischee auffassen.

Wie bei einem Buch der Leser, ist beim Hörfunk der Hörer Empfänger der Botschaften. Er denkt, wenn er will, aber er redet selbst nicht mit.

Das Schweigen des Hörers beruht aber auf keinem Verbot, sich zu äußern, sondern auf seinem Alleinsein.

Der Hörer interagiert nicht mit dem Sender - weder real noch gefühlt. Wenn das Radio nicht gerade als Stimmungsmodulator im Hintergrund "mitläuft", hört er konzentriert zu. Er ist, um den Bonhoefferschen Begriff in einem anderen Zusammenhang zu verwenden, in einem Zustand der Sammlung, jedenfalls verglichen mit einem Nutzer "sozialer Medien", in denen es scheinbar permanent irgendwelche Knöpfe zu drücken gibt und wo scheinbar überall sein Senf zu irgendeinem Thema gefragt ist.

Es gibt Eigenheiten, die totalitäre und demokratisch legitimierte Gesellschaften gemeinsam haben - dazu gehört ihr Massencharakter, und dazu gehört die Massenbeeinflussung. Wenn der Deutschlandfunk selbst zwischen zwei und fünf Uhr morgens keine Musikprogramme mehr sendet, sondern (offenbar seit 2015) nachts seine überwiegend politischen oder politisch gefärbten Beiträge des Tages wiederholt, drängt sich - mir jedenfalls - die Annahme des Propagandaforschers Jacques Ellul auf, der zufolge (Kapitel 3, Teil 2) der einzelne Mensch Propaganda brauche, um als Mitglied der Gesellschaft die damit verbundenen Spannungen auszuhalten.*)

Das ist beim Auslandsrundfunk anders; jedenfalls, so lange er eher zu einstündigen als zu 24-Stunden-Programmen tendiert. Seine Art der Information ist überschaubar. Sie überfordert den Empfänger in der Regel nicht, und sie labert ihn nicht blind.

Die Botschaft hat einen Anfang und ein Ende, und ähnelt so gesehen wirklich eher den "ganz alten" Massenmedien: Buch und Papierzeitung.

Hinzu kommt ein inhaltlicher Pluralismus, den das Internet seinen Nutzern zwar auch bieten könnte, es aber eher nicht tut. Dafür trägt nicht "das Internet" selbst die Hauptverantwortung, und auch nicht die Anbieter von Online-Inhalten, sondern der Nutzer.

Das Internet erlaubt das Suchen nach Informationen oder Weltwahrnehmungen, die der eigenen widersprechen - und entsprechend zur gedanklichen Auseinandersetzung herausfordern. Alltagsnäher ist aber eine Nutzerwelt, in der das gesucht und vergleichsweise aufmerksam zur Kenntnis genommen wird, was eigenen Überzeugungen entspricht, und wo bei Widerspruch die Versuchung vergleichsweise groß ist, sofort einen Antwortknopf zu drücken, auf dass zukünftig niemand mehr im Internet Stuss verbreite.

Wer Auslandsdienste hört, erhält Kenntnis von sehr vielen verschiedenen Wirklichkeiten, und er erliegt weit weniger leicht als bei Inlandsmedien der Illusion, ihm werde "die Wahrheit" erzählt.

Und schließlich: bei technischem Interesse kann das Radiohören zu Aktivitäten führen, die vielseitiger sind als die Internetnutzung. Empfangsqualität auf einer Kurzwellenfrequenz zum Beispiel ist eine Frage des richtigen Empfängerstandortes - ein paar Meter können Wunder wirken, und einige Meter Extradraht - bis hin zu einer durchdachten Außenantenne - erst recht.

Wer dabei die notwendigen technischen und gesetzlichen Standards beim Blitzschutz beachtet und beim Experimentieren nicht von der Leiter oder aus dem Baum fällt, tut mithin auch noch etwas für die eigene Gesundheit.

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Note

*) Kontext hier - für die Browsersuche: If we admit that the government has no choice but to make
propaganda, there still remains

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Internationales Radio ist beim Hörfunk nur eine von vielen »Varianten. Hier beschränke ich mich weitgehend auf eine Variante.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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