Merkels achte Chinareise

"Fragen globaler Ordnung" Ein britisch-deutscher Wettbewerb um die Gunst Beijings ist wohl nicht ausgebrochen: wo China sich umtut, ist (auch) eine Frage der aktuellen Entwicklungsphase.

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Am Donnerstag treffe Angela Merkel den chinesischen Staatsvorsitzenden Xi Jinping zum Gespräch, vermerkte diese Woche die Website der Bundeskanzlerin. Dass Xi auch Chef der KP Chinas ist (seine eigentliche Machtbasis), war kein Thema. Umgekehrt notierte am selben Tag die die Nachrichtenagentur "Xinhua" an der Stelle, wo bei chinesischer Prominenz (gegebenenfalls) die KP-Zugehörigkeit notiert wird, in einem Merkel-Kurzprofil die Konfession: protestantisch.

Die Bundeskanzlerin besuche China zum achten Mal, informierte "Xinhua" statistikinteressierte Leser. Im August 1997 sei sie als deutsche Umweltministerin im Lande gewesen, und seitdem bereits sechs Mal als Kanzlerin: im Mai 2006, im August 2007, im Oktober 2008, im Juli 2010, im Februar 2012, im August 2012 und 2014 im Juli.

"'Goldenes Jahrzehnt' der chinesisch-deutschen Beziehungen ist vorbei"

Mehr als ein Jahrzehnt lang sei die Bundesrepublik der Ankerstaat für Chinas Engagement in Europa gewesen, so ein unter anderem in der "FrankfurterNeue Presse" und in der Oldenburger "Nordwestzeitung" veröffentlichter DPA-Artikel. Der Sinologe Sebastian Heilmann wird mit der Bemerkung zitiert, London habe die führende Rolle in den Beziehungen zu China übernommen.

Unkommentiert möchte der Artikel das aber nicht stehenlassen:

Dass Cameron plötzlich nur noch auf das Geschäft schielt, spricht auch aus chinesischer Sicht nicht unbedingt für Überzeugungen und Verlässlichkeit, wie aus hämischen Kommentaren von Internetnutzern erkennbar wird. Da genießt die Kanzlerin viel größere Wertschätzung. Aber Xi dürfte sich gefreut haben, dass das Thema Menschenrechte in London praktisch unter den Tisch gefallen ist und hier ein Keil zwischen die Europäer getrieben werden konnte.
Die Bundesregierung hält von solchen Kurswechseln aber nichts und bleibt in ihrer kritischen China-Politik standhaft. Die Chinesen wissen Zuverlässigkeit zu schätzen. Schon wegen der Stärke der deutschen Industrie werde Deutschland auch "mit Sicherheit der stärkste Handelspartner" der Chinesen bleiben, glaubt man im Kanzleramt.

Ausführlicher wird Heilmann auf den chinesischen Webseiten der "Deutschen Welle" wiedergegeben. Dazu wird ausführlich aus einer Pressemitteilung des Mercator Institute for China Studies - bzw. der vom Haus herausgegebenen Zeitschrift "China Flash" - zitiert, deren Direktor Heilmann ist. Zum einen lasse die chinesische Nachfrage nach Industriegütern nach, so Heilemann; zugleich gebe es

auf chinesischer Seite eine gewisse diplomatische Ernüchterung, weil gemeinsam vereinbarte Projekte stocken: Aus Sicht der Chinesen ist die deutsche Industrie in der Technologiekooperation zu passiv, und die Bundesregierung hat das Thema Innovationspartnerschaft zu niedrig aufgehängt.

Hinsichtlich eines im Oktober 2014 in Berlin unter Beteiligung Merkels und des chinesischen Staatsratsvorsitzenden Li Keqiang verabschiedeten Aktionsrahmen für eine Innovationspartnerschaft werde Merkel "in Peking enttäuschte Gesprächspartner aufmuntern müssen".

Peking hatte gehofft, dass deutsche Unternehmen chinesischen Firmen innovatives Wissen zur vernetzten Industrieproduktion beibringen. Doch deutsche Unternehmen sind verständlicher Weise skeptisch: Bei Industrie 4.0 geht es um elementare, sensible Zukunftstechnologien. Und die Frage, ob solches Know-how im chinesischen Kontext geschützt werden kann, muss man derzeit klar verneinen.

Dass allerdings nun nicht mehr Deutschland der "Ankerstaat" für das chinesische Engagement in Europa sei, führt Heilmann nicht nur auf eine "fulminante diplomatische Kampagne" der britischen Regierung zurück, sondern auf ein verstärktes chinesisches Interesse an einem Zugang zu internationalen Finanzmärkten und zu dienstleistungsbezogenem Know-how.

Und die Bundesregierung stellt in ihrer Ankündigung des Besuchs der Kanzlerin in China fest, Berlin habe sich zum Ziel gesetzt, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlich-technologischen und gesellschaftlichen Fragen herzustellen und auch Fragen der globalen Ordnung mit einzubeziehen - explizit auch das Thema Menschenrechte.

Menschenrechte: Mitleid mit Merkel

Dass Chinas Politiker die Zuverlässigkeit der Bundesregierung in ihrer "kritischen China-Politik" (DPA-Artikel) zu schätzen wisse, scheint Heilmann nicht unbedingt zu glauben: es sei "sehr gut möglich, dass die chinesischen Regierungsvertreter solchen Vorhaltungen nicht mehr so geduldig zuhören wie noch im letzten Jahr."

Mit Merkel müsse man Mitleid haben, findet die nationalistische und schwerpunktmäßig auf Auslandsthemen spezialisierte "Huanqiu Shibao" in einem das Satirische streifenden Artikel, hier am Donnerstag wiedergegeben vom Shanghaier "Observer" (Guanchazhe):

Heute und morgen besucht die deutsche Bundeskanzlerin Merkel China. So genannte Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International setzten sich nach Erhalt dieser Nachricht sofort in Bewegung. Diese Organisation, die China oft Schwierigkeiten macht, sowie die übel beleumundeten Organisationen "Weltkongress der Uiguren" und "International Campaign for Tibet" veröffentlichten kürzlich einen gemeinsamen offenen Brief an Merkel und verlangten von ihr, bei ihrem China-Besuch "Bedenken hinsichtlich der Situation in der chinesischen Justiz" vorzubringen und ihre Unterstützung für "die unterdrückten uigurischen Menschenrechtsanwälten" auszudrücken.

德国总理默克尔今明两天正式访问中国,大赦国际等所谓人权组织闻风而动。这家经常向中国发难的组织与臭名昭著的“世界维吾尔大会”及“世界声援西藏组织”日前联名给默克尔发公开信,要求后者在访华期间提出“对中国司法现状的担忧”,表达“对被打压维权律师的支持”。

Die im westlichen Exil befindlichen "Tibetische-Unabhängigkeit" und "Xinjiang-Unabhängigkeit"-Organisationen haben offenbar hinzugelernt, indem sie neue Begriffe wie "Situation in der chinesischen Justiz" und "uigurische Menschenrechtsjuristen" verwenden, sich mit Amnesty International zusammentun und Ärger machen. Das ist sehr lustig.

流亡西方的“藏独”和“疆独”组织看来最近加强了学习,用上了“司法现状”和“维权律师”等新词,还与大赦国际搞到一起“抱团取暖”,联合挑事,蛮是有趣。

Für die große Öffentlichkeit auf dem chinesischen Festland sind westliche Führer, die jedesmal, wenn sie China besuchen, das Hohelied der Menschenrechte singen, ein bisschen seltsam. Vor allem ist das, was sie mit Menschenrechten meinen, und das, was die chinesischen Normalverbraucher damit meinen, oft nicht dasselbe. Zum Beispiel sorgen sich Chinesen vor allem um soziale Gerechtigkeit, darunter auch Bildungsgerechtigkeit und Zugangsgerechtigkeit zu medizinischer Versorgung, Wohneigentum, Altenfürsorge usw..

对中国大陆数量庞大的公众来说,西方领导人每次到中国访问时总要像念经背书一样谈谈人权问题,有些怪怪的。尤其是他们说的人权与中国老百姓最关心的权利常常不是一回事,比如中国人最关心社会公平,包括受教育公平、医疗资源公平等,还希望居者有其屋,人人老有所养等等。

Chinesen verlangen auch Rechtsstaatlichkeit, hoffen auf eine Freigabe der freien Rede und eine demokratischere Regierung. Was diese betrifft, hat das Land eine Vielzahl von Praxisformen, fasst kontinuierlich die Erfahrungen zusammen, und in der Tat gibt es auf den Regierungsebenen Probleme, die gelöst werden müssen. Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben Eingang in die sozialistischen Grundwerte gefunden. Tatsächlich sorgt sich die chinesische Gesellschaft mehr als jede auswärtigen Kräfte darum, dies gut zu machen, und ist auf bei Erforschung dieser Themengebiete engagiert.

中国人还要求法治,希望言论开放,国家治理更加民主。关于这些,国家有种种实践,不断总结经验,也的确有些治理层面的问题需要破解。民主、法治这些词汇都进入了社会主义核心价值观,究竟怎么做好,中国社会比任何外部力量都更加关心,也在实际探索并努力。

Wenn Ausländer China gegenüber von Menschenrechten reden, ist damit oft die verschwindend geringe Zahl von Menschen gemeint, die wegen strafrechtlich relevanter Herausforderungen des durch Chinas Verfassung und Regeln bestimmten politischen Systems einsitzen. Wir haben sehr den Eindruck, dass sie [die Besucher] sich nicht um die sich grundsätzlich fortwährend verbessernden chinesischen Menschenrechte sorgen, nicht um den wachsenden Wohlstand einer Mehrheit der Chinesen, sondern dass sie [ungenaue Übersetzung] denen helfen wollen, die Konfrontation mit dem chinesischen System suchen. Mit dieser Methode wollen sie China Schwierigkeiten machen und China zwingen, Regierungsmethoden anzuwenden, die für dieses Land nicht passend sind.

外国人向中国一谈人权,指的往往是为挑战中国宪法规定 的政治制度而触犯刑法,并因此坐了监狱的极少数人。给我们的强烈印象是,他们不是关心中国人权基本面 的不断改善,不是关心绝大多数中国人的福祉,而是要帮助能数得过来的与中国体制搞对抗的人,他们是要以这种方式找中国麻烦,逼中国采取不适合自己的国家治 理方式。

Viele Menschen aus dem Westen sagen, dass sie sich ehrlich um die Menschenrechte sorgen und die Inhaftnahme von "Dissidenten" nicht ignorieren können. Sie verstehen aber offenbar nicht, was jene "Dissidenten" getan haben, dass sie nicht wegen "abweichender Meinungen", sondern weil sie aufgrund ihrer "abweichenden Meinung" Dinge taten, die vom chinesischen Gesetz verboten sind.1)

很多西方人说,他们是真诚关心中国人权,对有些“异见人士”遭到关押看不下去。但他们显然不了解那些“异见人士”究竟做了什么,不知道他们并非有“异见”而被抓,而是因为他们从“异见”出发,采取了中国法律禁止的行动。

Man müsse verstehen, dass China oft Anlass zu Missverständnissen gebe, so "Huanqiu Shibao". Schließlich sei die Welt ja groß, und da könne man das ferne China nicht leicht verstehen. Jedoch sollten sich Menschen aus dem Westen mit starken Meinungen zu Interventionen in China wissen, wie man sich in heiklen Situationen verhalte. Man lebe schließlich nicht in der Zeit der Vereinigten acht Staaten, und müsse den Westen auch nicht mehr um Kapital oder Technologie bitten.

Selbstbewusst wie heute, weiß die chinesische Gesellschaft um den Tick einzelner westlicher Führer, bei China-Besuchen "Menschenrechte" zu diskutieren. Daher haben sie ein bisschen Mitleid und Sympathie für die Besucher, die es auf sich nehmen müssen, über "Menschenrechte" zu reden, um danach ihren Vorgesetzten zu Hause Bericht zu erstatten. Offensichtlich ist die chinesische Gesellschaft etwas großzügiger als die Gesellschaften, die hinter ihren Führern [oder auf ihre Führer] Zwang ausüben.

中国社会如今自信了,知道西方有个别领导人访华谈“人权”的怪癖,因此对来访领导人要硬着头皮说句“人权”回去交差,有那么点同情和怜悯。怎么办呢,中国社会看来比在后面逼那些领导人的社会大度些,有时也就谅解了他们。

Ob die westlichen Gesellschaften nicht wüssten, welch ein verrottetes Spiel damit aufgeführt werde, sei nicht bekannt, schließt "Huanqiu Shibao". Wenn aber die Fensterreden unbedingt weitergehen müssten, sei man dabei gern behilflich.

Japan soll nicht nur von Deutschland, sondern auch von Großbritannien lernen

Ob das britisch-goldene Jahrzehnt ähnlich ertragreich wird wie das deutsche, wird schwer zu beurteilen sein. Zumindest aber sieht viel danach aus, dass Menschenrechtsthemen für London mittlerweile als überflüssige Hindernisse in den britisch-chinesischen Beziehungen gelten. Hua Yiwen, Autor für das Parteiorgan "People's Daily", findet jedenfalls, beide Seiten - Beijing und London - hätten eine aufrichtige Darstellung der chinesisch-britischen Beziehungen gegeben, mit einer strategischen Bestimmung und harmonischen Vielfalt, die das Wohlwollen der chinesischen Öffentlichkeit für Großbritannien in die Höhe habe schießen lassen.2)

Aber auch mit Deutschland ist Hua offenbar zufriedener als "Huanqiu Shibao". Wenn man sehe, wie aktiv Großbritannien und Deutschland ihre Beziehungen zu China entwickelten, müsse man unweigerlich an Japan denken. Anders als Deutschland habe Japan sich mit seiner Geschichte nicht auseinandergesetzt. Dies beeinträchtige die chinesisch-japanischen Beziehungen. Während Londons China-Politik von strategischer Weitsicht und politischem Mut geprägt sei - ausdrücklich erwähnt wird der zügige britische Einstieg bei der Asian Infrastructure Investment Bank -, habe die Regierung Shinzo Abes sich entschieden, zusammen mit den USA den Gong der "chinesischen Bedrohung" zu schlagen und damit der Anpassung der eigenen militärischen Sicherheitspolitik den Weg zu ebnen und den chinesisch-japanischen Beziehungen einen weiteren Komplikationsfaktor hinzuzufügen.

Notes

1) Der im Ausland wohl bekannteste, im chinesischen Inland allerdings nahezu unbekannte Dissident Liu Xiaobo befindet sich seit Dezember 2008 kontinuierlich in Haft und wurde im Dezember 2009 wegen "Agitation zum Umsturz der Staatsmacht" verurteilt. Meines Wissens gab es keine konkrete Urteilsbegründung. Ein vermutbarer Anlass zur Verhaftung 2008 war die bevorstehende Veröffentlichung der von Liu mitverfassten Charta 08.

2) Wie nachhaltig nicht nur das Wohlwollen der chinesischen Öffentlichkeit, sondern auch die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen des britisch-chinesischen "Goldenen Jahrzehnts" sein können, hängt allerdings auch von einem Faktor ab, der London aus Washington bekannt vorkommen dürfte. Man schätze ein starkes Vereinigtes Königreich in einer starken Europäischen Union, hatte Barack Obama Cameron Anfang 2013 wissen lassen. Und Xi Jinping im Oktober 2015 schlug in die selbe Kerbe, meldete "Xinhua" vor einer Woche:

"Xi Jinping betonte, die Europäische Union sei Chinas Partner in einer umfassenden strategischen Partnerschaft. China hoffe auf ein blühendes Europa, ein einiges Europa, und ein Mitgliedsland Großbritannien, das eine aktive und konstruktive Rolle bei der Förderung und Vertiefung der chinesisch-europäischen Beziehungen spielen werde.

习近平强调,欧盟是中国的全面战略伙伴和最大贸易伙伴。中国希望看到一个繁荣的欧洲、团结的欧盟,希望英方作为欧盟重要成员国为推动中欧关系深入发展发挥更加积极和建设性的作用。"

Darüber steht bekanntlich noch ein Referendum an. Cameron hat mit Xi's Äußerung Punkte gegen die Befürworter eines "Brexits" gesammelt; dafür allerdings in Londons Verhandlungen mit Brüssel über "EU-Reformen" weiter an Fahrt verloren.

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