Merkels Politik folgt einer etablierten Linie

Erdogan-Satire Merkels Telefongespräch mit Davutoglu war ein Versuch. Vielleicht macht er für die Zukunft klüger. Aber ein Verrat an den Grundrechten war er nicht.

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Wenn man davon ausgeht, dass die Türkei im Umgang der EU und Deutschlands mit der Flüchtlingskrise eine Schlüsselrolle spielen müsse, gibt es in Angela Merkels Türkeipolitik nichts aufregend Neues.

Es ist allerdings kein kleines "Wenn": zum einen fragt sich, ob sich die unkontrollierte Völkerwanderung aus dem nahen und mittleren Osten nicht sehr schnell Alternativen zum Weg über die Türkei erschließen wird, und zum anderen stellt sich die Frage danach, ob und auf welcher →Grundlage Deutschland, das ja weder das Grundrecht auf Asyl ausdrücklich abgeschafft noch die Flüchtlingskonvention gekündigt hat, überhaupt zu einer Übereinkunft mit Ankara zur Verhinderung weiterer Einreisen in die Bundesrepublik berechtigt war.

Aber das sind nicht die Fragen, die die wahrnehmbare Öffentlichkeit zur Zeit beschäftigen. Statt dessen wird gefragt, ob die Bundeskanzlerin in einem Telefongespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu am 2. April ihre Kanzlerschaft aufs Spiel gesetzt habe, als sie - laut ihrem Regierungssprecher Seibert - ein Erdogangedicht des Satirikers Jan Böhmermann als "bewusst verletzend" bezeichnete, oder sich mit einer solchen Bewertung einverstanden erklärte:



Gesprächsgegenstand war auch die jüngste Veröffentlichung eines sogenannten Schmähgedichts gegen den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Die Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident stimmten überein, dass es sich dabei um einen bewusst verletzenden Text handele. Die Bundeskanzlerin verwies auf die Konsequenzen, die der ausstrahlende Sender bereits gezogen hat. Sie bekräftigte noch einmal den hohen Wert, den die Bundesregierung der Presse- und Meinungsfreiheit beimisst.

Immerhin sprach Seibert in der Bundespressekonfernz am 4. April von sich aus an, dass Böhmermanns Satire Thema im Telefongespräch gewesen sei: das lässt vermuten, dass die Bundesregierung die Angelegenheit nicht für überstanden hielt. Und im weiteren Verlauf der Pressekonferenz noch nachhakende Fragen legen den Eindruck nahe, dass die Medienvertreter das genauso sahen.

Punkte hatte die Kanzlerin aus ihrer Übereinstimmung mit Davutoglu jedenfalls nicht erzielen können: Ankara dachte gar nicht daran, die Sache damit auf sich beruhen zu lassen. Und daraus wiederum ziehen Erdogan und seine Anhänger in der Türkei ihrerseits Vorteile: wird Böhmermann in einem der zwei Verfahren, die Erdogans Anwälte anstrengen, verurteilt, wird die AKP-Regierung einen großen "Sieg aller Türken" verkünden. Und wird er freigesprochen, wird die AKP Erdogan zur Identifikationsfigur für das beleidigte Türkentum erheben - es kann sein, dass sich davon auch manch einer ansprechen lässt, der mit seinem Präsidenten ansonsten nicht viel anfangen kann.

Das ist nicht Böhmermanns Schuld. Und es ist auch nur allenfalls bedingt die Schuld der Kanzlerin. Der eine machte Satire, über die sich streiten lässt; die andere verfolgt eine Politik, über die sich (siehe Einleitung) ebenfalls streiten lässt.

Aber die Mittel, mit denen Merkel ihre Politik verfolgt, sind nicht ungewöhnlich. Regime, die - selten aus Stärke - menschenrechtsfeindlich agierten, wurden schon aus Bonn regelmäßig begütigt und beliefert. Und gäbe es heute nicht in Deutschland wie in der Türkei ein fast unerschöpfliches Empörungspotenzial, gäbe es jetzt auch keine "Affäre" mehr. Sie kocht weiter, weil sie für Erdogan und seine Anhänger profitabel ist.

Mitunter, wenn über Merkel gestöhnt wird - und es gibt ja durchaus Gründe, über ihre Kanzlerschaft zu stöhnen -, wird an alte Helden des Kanzleramts erinnert, bei denen es "so etwas" nicht gegeben hätte. Helmut Schmidt, zum Beispiel.

Nun sind 34 Jahre eine lange Zeit. Aber dass Anwar al-Sadat, auch nicht als großer Freund der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit bekannt, ein "wunderbarer Kerl" war, ließ der Altkanzler das Publikum noch 2010 wissen. Das gleiche Prädikat erhielt auch der frühere chinesische Außenminister Huang Hua. Und wenn sich der Komiker Otto Waalkes nicht ganz falsch erinnert, forderte der damalige Kanzler ihn nach einem Witz über den Papst sogar auf, sich beim obersten Katholiken zu entschuldigen.

Vielleicht ist die Kanzlerin kommunikationstechnisch nicht auf dem neuesten Stand: es sei dahingestellt, ob sie sich den stürmischen und volatilen Wirklichkeiten der "sozialen Medien" anverwandeln muss oder nicht. Aber sie befindet sich, gegenüber ihren Vorgängern im Amt, bei der Verteidigung der Menschenrechte keineswegs im Rückstand.

Eine Mehrheit der Deutschen findet einer von der "Zeit" zitierten Umfrage zufolge das Flüchtlingsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei schlecht. Das ist allerdings ein ziemlich schwankender Meinungsmoment. Im März fanden laut "Zeit" 46 Prozent der Befragten das Abkommen "eher gut", und 49 "eher schlecht". Führte das Abkommen zu einer von der Öffentlichkeit als solche bewerteten "Verbesserung" - sprich: zu einer als dankenswert empfundenen Verlangsamung der Fluchtbewegungen -, lässt sich leicht voraussehen, dass Merkel ganz schnell wieder Mutti wäre.

Problembewusstsein drückt sich in derartigen Schwankungen nicht aus. Eine aufgeklärte Haltung - in einem Kantschen Sinne, abendländisch oder universal - auch nicht. Dabei wäre ein öffentliches Bewusstsein, das die Erosion der Grundrechte (deutscher und ausländischer) überhaupt erst einmal zur Kenntnis nähme, dringend notwendig.

Das größte Problem scheint mir darin zu bestehen, dass über diese "Regierungskrise", "Staatskrise", "Kanzlerinnenkrise" oder "Grundrechtekrise" das Augenmaß verlorengeht. Ich teile nicht den Vorwurf, den der Medienbeobachter Jörg Wagner Böhmermann macht, dem zufolge Böhmermann mit seinem Schmähgedicht sehr stark Aufmerksamkeit auf sich gezogen und vom Wesentlichen abgelenkt habe. Aber Wagners - erfreulich weiten - Blickwinkel würde ich manch anderem seiner Kollegen herzlich wünschen.

Und manchem Hörer, Leser oder Zuschauer auch.

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