Die EU erstickt an ihrem Pragmatismus

Verhandlungen mit Türkei Wird die EU erpresst?

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Wenn die Türkei als reguläres und akzeptables "Rücknahmeland" für Flüchtlinge betrachtet wird, dann stellt sich die Frage, warum sie nicht auch ein akzeptables Beitrittsland zur Europäischen Union sein sollte. Sie ist ja offenbar eine vertrauenswürdige Sachwalterin für die Rechte von Flüchtlingen.

Im Januar bescheinigte die Agentur des UNHCR Griechenland Fortschritte in der Gestaltung des Asylrechts, befand aber auch, es gebe trotz Reformen

weiterhin Probleme im griechischen Asylsystem. Dazu zählen: Schwierigkeiten im Zugang zu einem Asylverfahren, ein Rückstau von Fällen ohne Entscheidung unter den alten Verfahrensbestimmungen, die Gefahr willkürlicher Inhaftierung, inadäquate Aufnahmebedingungen, fehlende Identifizierung und Unterstützung von Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf, sogenannte ‚push-backs‘ an den Grenzen, mangelnde Integrationschancen und entsprechende Unterstützungsmaßnahmen sowie fremdenfeindliche und rassistische Gewalt.

Daher bleibe der UNHCR bei seiner Empfehlung, Asylsuchende nicht aus anderen Staaten der Europäischen Union nach Griechenland zurückzuschicken.

So gesehen ist es kein Wunder, wenn Griechenland "nur eine Durchgangsstation" für die dortigen Flüchtlinge ist, wie vom "Tagesspiegel" ziemlich kontextfrei im August 2015 erwähnt - knapp acht Monate, nachdem UNHCR seine Empfehlungen an die anderen EU-Mitgliedsländer ausgesprochen hatte.

1993 machte Deutschland sein Asylrecht zur Sache "sicherer Drittstaaten". (Wer sich heute über unsolidarische Europäer empört, mag sich vielleicht an den schlanken deutschen Fuß vor 23 Jahren erinnern.) Zu den "sicheren Drittstaaten" gehören alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Also auch Griechenland.

Das heißt: wenn Flüchtlinge, die Griechenland über die Türkei erreichten, von dieser "zurückgenommen werden", hatten sie möglicherweise keine reelle Chance, überhaupt einen Antrag auf Asyl zu stellen.

Gleichzeitig bekundet man in Deutschland Bauchschmerzen bei der Vorstellung, die Türkei womöglich in die EU aufnehmen zu müssen.

Hier stößt eine Politik, die sich selbst gern als "pragmatisch" sieht, an ihre logischen Grenzen.

Eine Politik "aus einem Guss" kann man in keiner Gesellschaft verlangen - nicht einmal in einer totalitären, und erst recht nicht in einer, die für sich in Anspruch nimmt, eine "offene Gesellschaft" zu sein.

Aber wenn Opportunismus und Heuchelei im Laufe der Jahrzehnte überhand nehmen, beginnt die systemimmanente Heuchelei.

Es ist unter diesen Umständen nicht in Ordnung, mit der türkischen Regierung zu verhandeln und dabei gleichzeitig die Nase zu rümpfen. Und das Ergebnis der laufenden Prozesse, das sich jetzt schon absehen lässt, ist ebenfalls nicht in Ordnung. Das wird ungefähr so aussehen:

Man lässt sich auf die "Erpressungen" Ankaras ein, man eröffnet eine "Beitrittsperspektive" zur EU, und irgendwann erinnert man sich und Ankara daran, dass man sich wohl mal irgendwann versprochen habe.

Das ist keine gute Voraussetzung für eine gute Nachbarschaft. Man kann nur hoffen, dass die türkische Gesellschaft ihre Widersprüche besser in den Griff bekommt, als die Europäische Union die ihren.

Auf europäische Hilfe bei der Wiederherstellung der Menschenrechte sollte die Türkei lieber nicht warten.

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Geschrieben von

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