Obama östlich des Brandenburger Tors

Status Quo. Barack Obama bleibt populär. Angela Merkel sonnt sich im präsidialen Glanz. Obamas Rede war nicht aufregend. Anlass zum Nachdenken bietet sie trotzdem.

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Barack Obamas Rede am Brandenburger Tor war ein Wohlfühl-Event für etwa 4500 zugelassene Zuhörer, und ein langweiliger Überstunden-Job (so darf man wohl annehmen) für 8000 Polizisten.

Da, wo Obama von Herausforderungen sprach, tat er das in Worten, in der es der chinesische Partei- und Staatschef auch hätte tun können - von den Begriffen "Freiheit" und (individueller) Selbstperstimmung vielleicht einmal abgesehen.

Man kann darüber streiten, ob das eine oder andere Pfeifkonzert während Obamas Rede ein realistischeres Bild von der Stimmung in Berlin gegeben hätte als das choreographierte Event. Ein gemischteres Stimmungsbild war aber kein Muss - und Obama bleibt in Deutschland ein populärer Präsident. Etwa so vielleicht, als wolle man sich eine Kaufentscheidung, die man nun einmal getroffen hat, nicht nachträglich madig machen lassen. Vielleicht ist es aber auch die Überzeugung, Obama sei doch immerhin immer noch besser als George W. Bush.

Theoretisch hat Obama noch dreieinhalb Jahre lang Zeit, sicherheitspolitisch für ein ganz anderes Amerika zu stehen als sein unmittelbarer Vorgänger. Praktisch sieht das anders aus: in den letzten zwei Jahren seiner zweiten und letzten Amtszeit wird man sich in Amerika stärker für seine vermutbaren Nachfolger oder Nachfolgerinnen interessieren. Schwer vorstellbar, dass sich bis dahin Aufnahmeländer für Guantanamo-Insassen finden, dass die Öffentlichkeit - und sei es nur die amerikanische Öffentlichkeit - die Kontrolle über die Überwachungsbürokratie zurückgewinnt, die sie spätestens nach dem 11. September 2001 nicht mehr hatte, oder dass Bradley Manning einen fairen Prozess erlebt.

Wenn das überhaupt je einmal von Obama abhing, dann tut es das inzwischen wohl nicht mehr. Es gibt in Amerika Umfragen zufolge keine Mehrheit, die ein echtes Problem mit staatlicher (oder auch teilprivatisierter) Überwachung hätte. Es gäbe aber mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit, die Obama politisch dafür verantwortlich machen würde, wenn er die "Sicherheits"-Bürokratie erfolgreich reduzierte, um dann zukünftig bei jedem weiteren terroristischen Anschlag in Amerika erklären zu müssen, warum diese auch ohne den Rückbau der Überwachung passiert wären.

Möglicherweise sieht man das in Deutschland nicht viel anders. Vielleicht auch darum drückt sich in der Kritik an der NSA-Praxis oft eher Unbehagen als Empörung aus.

Eins sollten sich Obamas Kritiker in Amerika oder auch in Deutschland jedenfalls abschminken: sie sprechen weder für das eine noch für das andere "Volk". Sie können nur für sich selbst und für die sprechen, die ihnen zustimmen.

Online habe ich diese Erfahrung in den letzten Tagen auf dem Kommentarthread einer amerikanischen - überwiegend china-bezogenen - Website gemacht. Wenn auch viele "Liberale" kein Problem mit Rufmordkampagnen zum Beispiel gegen Edward Snowden haben (die Vorwürfe lauten unter anderem auf Schulabbrecher und Narzisst), helfen nicht einmal grundlegende Anstandsregeln.

So weit, wie es nötig war, um für seine Wählerinnen und Wähler tragbar zu sein, hatte Obama sich in den letzten gut vier Jahren in Richtung Multilateralismus und Liberalismus bewegt. Ob man das nun hoch oder gering schätzt: mehr konnte er der amerikanischen Öffentlichkeit in dieser Hinsicht offenbar nicht vermitteln.

Was bedeutet das für diejenigen, die die staatlichen Überwachungsmaßnahmen und Rechtsverletzungen ablehnen, und die Veränderungen wollen?

Sie müssen Obama nicht erreichen. Sie müssen auch seine Nachfolger nicht erreichen. Erreichen müssen sie diejenigen, die sie wählen, und die aus Angst das wählen, was sie für "Sicherheit" halten. Nur Mehrheiten erreichen - vielleicht - eine politische Führung.

Das gilt übrigens für beide Seiten des Atlantiks, für Amerika und für Deutschland. Politische Diskussionen ergeben vor allem mit denen Sinn, die vom Status Quo nicht unmittelbar profitieren, aber Angst vor Veränderungen haben. Von Veränderungen überzeugen lassen sich allenfalls diejenigen, die weder ideologisch noch materiell vom Status Quo profitieren. Sie müssten allerdings die Angst verlieren, Veränderungen könnten ihre Lage womöglich noch verschlimmern, anstatt sie zu verbessern.

In solchen Diskussionen sind Glaubensbekenntnisse allenfalls ein Teil der Argumente. Wichtiger ist zu verstehen, wie diejenigen denken, die Angst haben, und damit unweigerlich dabei mithelfen, die Realitäten von heute auch für die Zukunft einzufrieren.

Denn Obamas bestes Argument für den Status Quo ist die Angst - ein Gefühl, das er in seiner Rede nicht erwähnte.

In Obamas Rede am Brandenburger Tor ging es um Erreichtes, und um zukünftige Herausforderungen. Obama überzeugt, findet Roland Nelles im "Spiegel". Damit gibt er vermutlich eine Mehrheitsmeinung wieder. Wer ein besseres Amerika - oder ein besseres Deutschland - will, sollte solche Meinungen oder Gefühle nicht ignorieren. Genau mit dieser Mehrheit lohnen sich Diskussionen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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