Der kommende Frühling

Weltpolitik Politische Ideen leben nicht alleine durch ihren Inhalt, sondern auch von der gesellschaftlichen Stimmung. Diese Stimmung darf die europäische Linke nicht verpassen.

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Das Beruhigende an den Jahreszeiten ist ihr sicheres erscheinen im Jahresverlauf. Das Unberuhigende ist ihre Unpünktlichkeit. Bei politischen Bewegungen ist es dasselbe. Niemand weiß, wann sie kommen, wie stark sie werden und ob sie nicht schon wieder verschwunden sein werden, wenn man sich an sie gewöhnt hat. In beiden Fällen gilt, wer sich nicht darauf vorbereit, der wird überrascht und verpasst den richtigen Moment.

Das Ende verwalteter Politik in der Krise

Die multiplen Krisen des letzten Jahrzehnts hatten den Herbst bereitet, und die Auswirkungen sind nun im europäischen Winter zu spüren. Die Herbstkriege waren der Auslöser für die humanitäre Katastrophe, die Menschen zu uns flüchten lässt. Die Flüchtenden haben den Winterschlaf Deutschlands so jäh unterbrochen, dass selbst Merkel sich zu Wort gemeldet hat. Die andere Krise, die Finanz und Wirtschaftskrise hat gleichzeitig Millionen Arme und Prekäre in Europa und der Welt geschaffen. Dazu kommt die vergessene Klimakatastrophe, sie wird die politische Krise der nächsten Jahrzehnte mitprägen.

Syriza war erst der Anfang

Wie streng der Winter wird ist genauso unmöglich abzuschätzen wie die Prognose des Frühlings. Aber es ist eindeutig, dass der Winter enden und der Frühling beginnen wird. Die europäischen Linken sollten sich darauf vorbereiten. Der Vorbote des Frühlings war Syriza, die im eisigen Europa keine Chance haben zu sprießen. Aber die Aussichten auf einen linken Frühling sind nicht so schlecht. In England, Spanien, Portugal, Irland und vielleicht sogar in den vereinigten Staaten könnte sich der Wind leicht bis mäßig drehen. Gegenwind kommt von den rechten und ultrarechten Kräften aus Polen, Ungarn und demnächst vielleicht auch Frankreich. Damit droht der Hegemonie des neoliberalen Projekt in Europa das Ende seiner Halbwertszeit und damit der Zerfall in Partikularinteressen. Die Folge wäre eine Weimarerisierung der europäischen Union.

Von den Krisen zur Neukonstitution

Die multiplen Krisen der Gegenwart können sich so zur politischen Krise verdichten. In diesen Krisenmomenten konstituieren sich immer politische Institutionen, Prozesse und Hegemonien neu. Mit anderen Worten, es sind tiefgreifende politische Veränderungen möglich. Leider ist zu erwarten, dass die Konservativen, die Rechten und die Ultrarechten Kompromissen finden werden und gestärkt in den Neukonstituierungsprozess Europas eingreifen. Und diesmal ginge es nicht bloß um Grenzen, sondern um Werte. Diese europäischen grundsätzlichen Werte, so oft sie von der EU derzeit auch missachtet werden, sind im Kern linke Werte. Die Hetze von Kaczyński, Orbán, Erdoğan oder Höcke zielt auf die Abschaffung dieser grundsätzlichen Werte und ihrer Institutionen. Mit dem Angriff auf die Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung oder den Laizismus wird die Demokratie insgesamt in Frage gestellt. Sie könnten gegenüber der defekten Demokratie der EU eine neue antidemokratische und autokratische Achse bilden.

Gegenhegemonie aufbauen

Das linke Europa sollte daran arbeiten eine Gegenhegemonie aufbauen, um den kommenden geschichtlichen Moment nicht zu verpassen. Dazu bedarf es einer besseren europäischen Vernetzung, um als einheitliche europäische politische Kraft aufzutreten. Es bedarf einer besseren Ruckkopplung an die lokale Bevölkerung. Außerdem braucht die europäische Linke eine neue Sprache, jenseits alter Parolen. Wer in Europa heute von Imperialismus, Klassenkampf und Diktatur des Proletariats spricht, der wird keine Mehrheiten gewinnen können, unabhängig davon ob die Wörter passen oder nicht, sie transportieren nicht mehr das passende Lebensgefühl.

Der Frühling wird kommen

Entscheidend wird aber ein überzeugendes Konzept nationalstaatlicher und europäischer Ordnung sein. Der Negation herrschender Politik muss ein Gegenmodell folgen, was mehr als Steuererhöhung für Reiche und Erhöhung des Mindestlohns verspricht. Die linken Bewegungen hatten in den Sechziger und Siebziger Jahren nicht nur den Kampf um die Hegemonie verloren, sondern, und das ist vielleicht entscheidend, den Glauben an die eigenen konkreten Utopien; an die Utopien, die materiell möglich sind. Ein Netzwerk aus europäischen Bewegungen und Parteien sollte solch eine Utopie formulieren können. Es wird der Frühling kommen, in der man sie braucht.

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Geschrieben von

jw

Journalist, Soziologie, Aktivist

jw

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