Aus der Geschichte des Fortschritts

Hans Magnus Enzensberger Tapfere, traurige, komische Männer

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In Krisenzeiten ist es kein Fehler, zur Entspannung den guten alten Skeptiker Hans Magnus Enzensberger zulesen.

Zum Beispiel die „Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts“, die er 1975 unter dem Titel MAUSOLEUM veröffentlicht hat. Es handelt sich um lyrische Portraits von Wissenschaftlern, Philosophen, Politikern und Abenteurern aus dem 14. bis zum 20. Jahrhundert, vom italienischen Uhrmacher Giovanni de Dondi bis zum argentinischen Revolutionär Ernesto Guevara de la Serna.

Ihre formale Struktur ist einfach: Enzensberger zitiert aus den Schriften seiner Helden, beschreibt und kommentiert, manchmal mitfühlend fragend oder mit harschem Urteil, immer interessiert am Ende dieser Männer, an den Zusammenhängen und Folgen ihrer Arbeit und immer auf der Suche nach einer guten Pointe.

„Die Barbarei ist für immer besiegt“

Zum Beispiel der französische Mathematiker und revolutionäre Politiker A. C. de Condorcet ( 1743 - 1794 ), der mathematisches Wissen auf die Planung sozialer Prozesse anzuwenden versuchte, eine republikanische Verfassung entwarf und vor seiner Hinrichtung auf der Guillotine ( vermutlich ) Selbstmord beging:

"In seinem letzten Versteck schrieb er: Das Licht kurz vor dem Ende

der Aufklärung garantiert uns, daß wir beim Schein eines Kerzenstummels

einer glücklichen Zukunft entgegengehn. Kopf oder Wappen: Wie schade,

daß der Bürger Marquis beides zugleich verlor. Wir kondolieren.

Die Barbarei ist für immer besiegt. Ein naives Fluidum steigt uns in die Nase,

und wir fragen uns, was es mit dieser Philosophie für eine Bewandtnis hat:

ist sie Beschwörung, wohlriechender Hohn, Stoßgebet, idee flxe, oder Bluff?"

„Unter den Propheten der Katastrophe der Muntersten einer“

Oder der englische Pfarrer und Professor der politischen Ökonomie T. R. Malthus ( 1766 - 1834 ), der mit Statistiken bewies, dass der geometrische Anstieg der Bevölkerung zu Hungersnöten, sozialen Konflikten und Bürgerkriegen führen müsse: .

"Zugegeben, seine Kalküle waren nicht gut genug. Er wußte nur eines:

Etwas wächst, wird mehr, immer mehr. Auch das Wachstum wächst,

auch der Hunger wächst, auch die Angst. Mit rosigen Wangen

setzte er sich, die Hände reibend, zum Tee, ließ sich seine Muffms reichen

von einer rosigen Frau, immer derselben, die er, bescheiden und prüde,

einmal im Monat beschlief: ein unerschrockenes Hasenherz,

ein Simulant, der zeitlebens den Gesunden gespielt hat,

unter den Propheten der Katastrophe der Muntersten einer."


„Du warst verworren wie wir“

Fast ohne Ironie und sehr persönlich das Porträt des russischen Anarchisten M A. Bakunin ( 1814 - 1876):

"Ach, schweigen wir von der Liebe, Bakunin. Sterben wolltest du nicht.

Du warst kein politökonomischer TodesengeI. Du warst verworren

wie wir, und arglos. Kehr wieder, Bakunin! Bakunin, kehr wieder.

Endlich die Nacht in Bologna. Es war im August. Er stand am Fenster.

Er lauschte. Nichts regte sich in der Stadt. Die Turmuhren schlugen.

Die Insurrektion war gescheitert. Es wurde hell. In einem Heuwagen

versteckte er sich. Den Bart abrasiert, im Habit eines Pfarrers,

ein Körbchen Eier im Arm, mit grüner Brille, am Stock zum Bahnhof

ist er gehumpelt, um in der Schweiz zu sterben, im Bett.

Das ist jetzt schon lange her. Es war damals wohl zu früh, wie immer,

oder zu spät. Nichts hat dich widerlegt, nichts hast du bewiesen,

und darum bleib, bleib wo du bist, oder, meinetwegen, kehr wieder."

Ein guter Mensch, Sozialingenieur und Republikaner, der Selbstmord begeht, bevor der Terror der Jakobiner ihn erledigen kann,

ein Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie, der zwischen seinen Berechnungen der demographischen Katastrophe Tee und Gebäck genießt, und

ein Anarchist, der auf den Barrikaden Europas steht und in einem Schweizer Bett stirbt -

so sind sie, Enzensbergers Helden aus der Geschichte von Krise und Fortschritt im modernen Europa: tapfere, traurige, komische Männer.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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