Gutmenschen unter sich

Gang um den See Über eine weinende Mutter und weibliche Kunst aus Deutschland

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Beim Gang um den See, während die Kormorane auf der Insel Schutz suchten und die Heckrinder auf den Wiesen nebenan, vom Wintereinbruch unbeeindruckt, ihrer gewohnten Tätigkeit nachgingen, berichtete I. vom spontanen Besuch ihrer Mutter, neulich im Herbst, in der Kommune bei K., wo sie seit einigen Jahren mit ihrer Freundin arbeitet und lebt. Die sei darüber entsetzt gewesen, dass die Restauration der alten Hofanlage immer noch nicht abgeschlossen ist und ihre Tochter nach wie vor einen Bauwagen bewohnt. Sie habe damit gedroht, ihre finanzielle Unterstützung einzustellen, und sei mit dem neuen Lebensgefährten weinend fortgefahren. Wir kennen die Mutter seit studentischen Zeiten - sie war damals eine strenge Maoistin mit geringen Ansprüchen an materiellem Komfort - und versprachen I., mit der Mutter zu reden und ihr zu erklären, dass sie sich bewusst für ein Leben in der Gemeinschaft ohne die Attribute bürgerlichen Wohlstands entschieden habe. Sie selbst schaffe das nicht und werde die Mutter während ihres Besuchs in B. nicht besuchen.

Dann berichtete I. von ihrem Besuch in der Kunsthalle der Stadt, die zur Zeit eine Ausstellung zur Moderne der Frauen im letzten Jahrhunderts zeigt („Einfühlung und Abstraktion“). Da sei sie auf eine Führung speziell für Flüchtlinge gestoßen: ungefähr zwanzig Menschen, überwiegend Männer, angeleitet von zwei Frauen, die versuchten, ihnen auf Deutsch und Englisch Bilder von Paula Modersohn-Becker, Meret Oppenheim und Karin Kneffel zu erklären. Sie sei darüber erstaunt gewesen, wie aufmerksam die Flüchtlinge zugehört hätten und wie einige, die bereits Deutsch oder Englisch verstanden, den anderen in der eigenen Sprache die Bilder erklärt hätten. „Erstaunlich“, sagte sie, „dass hier bei euch noch Reste der Willkommenskultur überlebt haben.“ „Naja“, sagten wir, „auch hier ist die Stimmung gekippt. Könnte sein, dass hier bald eine Bürgerwehr die Flüchtlinge am Betreten der Kunsthalle hindern wird.“

Später beim Glühwein in der Kneipe am See erzählte I., dass seit einiger Zeit ein Algerier in der Kommune mitarbeite, Ende 20, seit 10 Jahren auf der Flucht, vom Ausländeramt bisher geduldet, aber keine Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis, nach der Verschärfung der Gesetze möglicherweise von der Abschiebung bedroht. Unglaublich, was der Mann in den Jahren seiner Flucht erlebt habe, und unglaublich, welche ignoranten Bürokraten im Ausländeramt ihrer Stadt das Sagen hätten.

Beim Abschied versicherten wir einander, dass die Zeiten zwar mies seien, aber Hoffnung noch überall lauere - vielleicht.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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