Lesefrüchte

Virales Feuilleton Über patriotische Viren, eine Hymne auf die verstümmelte Welt und einen Absacker in Moabit

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Nachdem alle Serien geschaut und alle Krimis gelesen waren, blieb noch Zeit für die ausführliche Lektüre des Feuilletons in der Wochenendausgabe der abonnierten Tageszeitung. In der SZ gibt der Autor und Filmemacher Alexander Kluge (88) ein Interview. Es geht um Kindheit und Kriegsende in Halberstadt, um den Anfang seiner Liebe zur Oper und um den Versuch, die Viren, die er fürchtet, als potentielle Bündnispartner des Menschen zu verstehen:

„In unserm Genom sind 50 Prozent ehemalige Viren, die jetzt Kämpfe führen gegen längst ausgestorbene Gegenviren von vor achthunderttausend oder vor 45 Millionen Jahren. Sie sind, wie die Hugenotten, die nach Preußen kommen, Patrioten unserer Körper geworden. Diese Fremdenlegionäre in unserem Genom sind das Fundament unserer Immunität. Sie sind das Beste an Gegenmittel, was wir haben. Vielleicht steckt der Verbündete, der Friedensschließer, auf den die andere Truppe da draußen hört, längst in uns.“

So richtig traut er dieser menschenfreundlichen Fantasie jedoch nicht. Vorsichtshalber habe er sich, wie Gerhard Richter (88), gegen Pneumokokken impfen lassen.

Dass die Welt kein intakter Ort ist, weiß natürlich auch der polnische Poet Adam Zagajewski. Gleichwohl fordert er in einem Gedicht aus dem Jahr 2001 – vor Banken-, Klima-, Flüchtlings- und Corona-Krise - dazu auf, die „verstümmelte Welt zu besingen“:

Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen

Versuch’s, die verstümmelte Welt zu besingen.
Denke an die langen Junitage,
und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé.
An die Brennesseln, die methodisch verlassene
Gehöfte der Vertriebenen überwucherten.
Du mußt die verstümmelte Welt besingen.
Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
eines davon hatte eine lange Reise vor sich,
ein anderes erwartete nur das salzige Nichts.
Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.
Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart
in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte.
Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.
Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
Besinge die verstümmelte Welt
und die graue Feder, die die Drossel verlor,
und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet
und wiederkehrt.

(Aus dem Polnischen von Karl Dedecius).

Die herbe Schönheit der „verstümmelten Welt“ leuchtet auch auf in dem Bericht von Katja Lange-Müller über ihren Absacker mit Alice Schwarzer in einer Kneipe im Moabit – einige Zeit vor den Kontaktverboten:

„Die Tresenkraft, eine üppige Person, die an jenem Abend einen feuerroten Overall trug, erstarrte bei Alices Anblick, riss die Augen unter den angeklebten Wimpern weit auf und rief mir zu: ‚Kneif mich, wenn die neben dir nicht Frau Schwarzer ist!‘ …schnell waren wir, genauerAlice, umringt von der sonstigen Kundschaft, einer welken Blondine und drei ziemlich zerzausten Männern. Die Blondine schoss ein Selfie mit Alice und erzählte, dass sie seit etlichen Monaten nicht mehr anschaffen gehe …Zwei der Männer blieben relativ schweigsam…, aber der dritte, sehr betrunken, begann zu weinen und sagte immer wieder: ‚glauben Sie mir, Frau Schwarzer, ick hab meine Rita nich gehauen, bloß anjespuckt hab ick ihr.‘ Alice nickte streng, redete dem Mann ins Gewissen, gab der Blondine einen Wodka pur aus…“

Die Glosse machte mir Lust auf Kneipe mit Bier und Zigarette. Aber ich beugte mich den Regeln des Ausnahmezustands und traf mich mit meiner Frau und einem kühlen Weißwein auf der Terrasse, die im Abendlicht lag und den Eindruck suggerierte, die Welt sei, jedenfalls jetzt und für kurze Zeit, ein friedlicher, freundlicher und irgendwie komischer Ort.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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