Lesetage in der Jammerbucht

Auszeit Im Sommer ist das Leben für Touristen hier eine Weile so, wie es immer sein sollte: hoher Himmel, Sonne, Wind, weite Strände, frischer Fisch und ungestörte Lektüren.

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Schon klar: Die Idylle dieser Sommertage in der Jammerbucht ist nicht die dänische Wirklichkeit. Die kennt auch Personenkontrollen an der Grenze, patrouillierende Bürgerwehren, die im Grenzgebiet nach illegalen Flüchtlingen fahnden, die Dansk Folkeparti, die mehr und mehr die politische Agenda bestimmt, und den jungen Mann, der die Mülltonnen an der Tankstelle durchsucht. Aber wir hatten uns entschlossen, unseren letzten dänischen Sommer noch einmal zu genießen.

In den Dünen der Jammerbucht las ich von Sommergästen in einem jütischen Badeort um 1900, von einem deutschen Juristen, der im 2. Weltkrieg dreißig Monate lang Dänemark regierte, und von fünf Toten in einer Grundschule.

Hermann Bang, Sommerfreuden. Drei Erzählungen. Stuttgart 2011

Die lang erwartete Kutsche aus Aalborg kommt dann doch noch zum Hotel Brasen, siebzehn Frauen und Männer, die eine Annonce für ein Wochenende in die kleine Stadt am Meer gelockt hatte. Sie versetzen den Wirt, seine Frau, das Personal und die örtlichen Honoratioren in hektische Betriebsamkeit, und während das Chaos der Ankunft nach und nach an Struktur gewinnt, folgt der Autor Hermann Bang in seiner Erzählung „Sommerfreuden“ ( 1902 ) den Handlungen, Gesprächen und Gedanken der Gäste. Er tut das diskret, deutet an, spart aus und erzählt aus wechselnden Perspektiven. Lebensgeschichten werden in Umrissen erkennbar: der drohende Bankrott des Wirtes, die homosexuelle Beziehung zweier junger Männer, die unterdrückte Erotik der Gemeindelehrerinnen, die Trauer der Tochter des Bürgermeisters über eine Liebe, die nicht stattgefunden hat.

Eine melancholische Erzählung über das Scheitern von Träumen, Hoffnungen und Ambitionen von Menschen, die sich an einem Tag im Sommer in einem jütischen Badeort begegnen. Aber keine trostlose Lektüre, denn Bang erzählt nach dem Motto: La vie est triste – rions enfin ( Das Leben ist traurig –lachen wir also ).

Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989. 5.A. 2011

Den gefallenen dänischen Freiheitskämpfern

lhr habt nun recht behalten, tote Streiter!

Nachdem der Weltgeschichte Spruch gefällt,

wart zu der Sieger Sitz, der Herrn der Welt,

Ihr wirklich Eures Landes Wegbereiter!

Das deutsche Reich, das mit des Kleinkriegs Waffen

lhr scharf bekämpft habt, es besteht nicht mehr,

nachdem Millionen tot in seinem Heer

und Bomben alle Städte schrecklich trafen.

Wenn drüben die gefallenen Soldaten

aus allen Heeren weilen, werden Haß

und Groll nicht mehr bestehn nach irdschem Maß.

Bei Gott sind alle Toten - Kameraden!

So seid lhr unsrer toten Kameraden,

dänische Freiheitskämpfer Ihr im Grab!

Und lhr seid Sieger, blicket stolz herab

auf helle Früchte Eurer nächt'gen Taten!

Seid deshalb nicht des ewigen Hasses Hüter,

der unsre Völker heut' zu trennen droht,

damit einst neu erblühn nach dieser Not

des Friedens und der Freundschaft edle Güter!

Das Gedicht stammt von Dr. Werner Best, der es im August 1945 in einem dänischen Gefängnis schrieb. Es ist ein zynisches Gedicht, denn der, der hier den Toten des dänischen Widerstands ( scheinbar ) seine Reverenz erweist und Frieden und Freundschaft zwischen Dänen und Deutschen beschwört, war von 1942 bis zum Mai 1945 als Regierungsbevollmächtigter des Deutschen Reiches der wichtigste Mann des NS-Regimes in Kopenhagen. Er hatte in dieser Zeit mit den demokratischen Parteien kooperiert, um die dänischen Agrarexporte nach Deutschland zu garantieren, freie Wahlen zum Parlament zugelassen ( die Sozialdemokraten wurden mit 44% stärkste Partei ) und schließlich von Berlin gefordert, die dänischen Juden in die Vernichtungslager Osteuropas zu transportieren.

Best wurde von den Dänen nach 1945 zunächst zum Tode, dann zu 5 Jahren Gefängnis und schließlich zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Zu Beginn der 50er Jahre wurde er amnestiert. In der Bundesrepublik gelang ihm als Unternehmensberater schnell die „Rückkehr in die Bürgerlichkeit“. Er koordinierte die Verteidigungslinien der alten Parteigenossen, die sich seit den 60er Jahren vor bundesdeutschen Gerichten verteidigen mussten, und starb 1989, nachdem er mehr als 30 Jahre in den Genuss einer Pension gekommen war, auf die er sich durch seine Tätigkeit im öffentlichen Dienst seit 1933 einen Anspruch erworben hatte.

Ulrich Herbert beschreibt und analysiert die Karriere eines Nationalsozialisten aus gutbürgerlichen Verhältnissen, der als Ideologe und Personalchef der Gestapo den Unterdrückungsapparat des Regimes organisiert und später in Frankreich den Völkermord an den französischen Juden koordiniert hatte. Er zerstört den Mythos des „guten Nazis“, indem er zeigt, wie sehr Best und die anderen intellektuellen jungen Nazis seiner Generation den nationalistischen, antidemokratischen und antisemitischen Idealen ihrer Jugend verpflichtet waren – als Mitglieder der Eliten des Dritten Reiches und als respektierte Bürger in der frühen Bundesrepublik.

Lesetage in Jütland wären nichts ohne Krimis. Kriminalhauptkommissar Konrad Sörensen ermittelt im Fall eines Mordes an fünf Männern, die in der Turnhalle einer Grundschule aufgefunden werden ( Lotte & Sören Hammer, Schweinehunde. München 2012 ) Warum haben moderne dänische Krimi-Autoren so viel Spaß an der Schilderung ausgesucht brutaler Morde? Die possierliche Olsen-Bande passte doch viel besser zu diesem beschaulichen Land. Aber das ist wahrscheinlich die Projektion eines ahnungslosen Touristen. Immerhin löst der Kommissar am Ende den Fall, und die Autoren entlassen ihn in die jütische Idylle:

„Sie stiegen aus und wanderten Hand in Hand über die Dünen hinunter zum Wasser. Als das Meer vor ihnen lag, blieben sie stehen. Kraftvolle Wellen schlugen an den Strand, die Sonne glitzerte auf den Schaumkronen, und der Wind wehte ihnen ins Gesicht.“

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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