EIN FLÜCHTLING
am punkt wo unsere kartographen die grenzlinien
dreier länder schnitten ragt eine klippe auf · unter ihrem fuss
lag ein frisches grab – eine schicht sand
von felsplatten bedeckt · daneben die plastiksohle eines schuhs
eine reisetasche ohne jegliches gewand
vertrockneter thunfisch in zwei aufgehackten konservendosen
vielleicht wurde er krank zurückgelassen
oder vom lastwagen gestossen
er hatte die lake getrunken · im schatten gesessen
der handbreit von der wand fiel
keine kraft mehr um zu hassen
dünenkämme gleissend · unerträglich weiss
der himmel nun vor einem ziel
das kaum je mehr war als die aussicht auf anderes als almosen
in der tasche gesicht und name auf einem ausweis
aus eritrea – vormals italienisch abessinien –
und eine telefonnummer in mannheim · er wurde 17 jahre alt
das leben ein ruder · ein leckgeschlagener nachen
inmitten einer verlandeten see
der wind murmelnd in so vielen unverständlichen sprachen
die zunge geschwollen · ihm brennendkalt
vor diesem alles nun vereinnahmenden vergessen
staub auf den wimpern · die sonne in den weiten unserer lee
GILF KEBIR 12 II 10
Raoul Schrott hat in der „Welt“ die Wirklichkeit hinter der Fiktion des Gedichts geschildert:
Ich war 2010 in diesem Dreiländereck, wohl das letzte Mal in meinem Leben, da Reisen nach Nordafrika inzwischen gefährlicher geworden sind als zur Zeit der Berliner Konferenz. Das Kamerateam, mit dem ich unterwegs war, benötigte militärischem Begleitschutz, weil bewaffnete Schmuggler öfters passierende Fahrzeuge kapern und die Insassen in der Wüste aussetzen.
Wir fuhren die Route nach, die der Entdecker dieser Gegend – László Almásy – im Zweiten Weltkrieg benutzt hatte, um deutsche Spione zu einem Kontaktmann zu bringen, jenem Nasser, der später als Staatspräsident Ägypten mit Syrien vereinigte. Im Gilf Kebir hatten wir Halt gemacht, weil dort steinzeitliche Felsmalereien von Monstern, die Menschen verschlingen oder ausspucken, zum Vorschein gekommen waren.
Am Ausgang dieses "Tals der Bilder" kreuzten sich die Spuren der Lastwagen, die Frachten von Flüchtlingen aus dem Darfur, Eritrea und Somalia an die Mittelmeerküste schafften, um auf dem Rückweg deutschen Zucker mitzunehmen. Unter einer Felsnadel lag ein namenloses Grab, zwei Steinplatten am Kopf- und Fußende als Zeichen für einen Mann, dazwischen alles von Wühlmäusen durchlöchert.
In der geplünderten Tasche daneben befand sich nur mehr die Fotokopie eines zwei Wochen zuvor im Sudan ausgestellten Flüchtlingsausweises, auf deren Rückseite eine deutsche Telefonnummer säuberlich notiert war. Die Soldaten sprachen ein kurzes Gebet, der Offizier rauchte eine Zigarette; ich aber war dem Grab zu nahe gekommen: das Gesicht des Toten ließ mich nicht mehr los, die Augen noch im Schwarz-Weiß leuchtend vor Lebenshunger.
(…)
Zuhause dann habe ich bei der Telefonnummer angerufen, in der Erwartung bei irgendjemandem zu landen, der illegale Einwanderer an einer Straßenecke Billiguhren verkaufen lässt. Die Stimme jedoch gehörte einem kleinen Mädchen, die aufgeregt wissen wollte, warum ich nach ihrem Cousin frage. Dass er tot in der Wüste liegt, war einer der schwersten Sätze, den ich je herausgebracht habe.
Nach und nach habe ich die Geschichte des Jungen erfahren: von seiner Familie verfolgter Christen, die sich für den einen Sohn alles vom Mund absparte; dem Onkel, der seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt; und einem Jungen, der sich zu Fuß aufmachte zu einem Lager mit Zelten aus Plastiktüten: Dysenterie und Typhus, Fliegen, Hitze und eine Betongrube als Abtritt für tausend Menschen.
Die Hälfte seines Geldes ging dann für den Lkw drauf, der ihn durch die Sahara bringen sollte, völlig auf sich gestellt, allein mit dem Mut der Jugend, nur um mitten im Nirgendwo zu krepieren, seine Leiche vom nächsten Transport beerdigt, der Totengräber mit ihm aus der Hose gezogenen Geldscheinen bezahlt.
aus: Raoul Schrott, Die Kunst an nichts zu glauben. München 2015
Schrotts Bericht in der "Welt": http://bit.ly/1SDdeQe
Kommentare 14
Verfolgte Christen. Wenn die Christen in Ägypten, Eritrea, Sudan an der Macht wären, würden sie wohl Schwule und Muslime verfolgen. Religion und Rückständigkeit sind wirklich ein gigantisches Problem.
Menschen sterben in der Dritten Welt an allem möglichen, und wenn die Umstände dort nicht geändert werden, und Entwicklungshilfe quasi dazu eingesetzt wird, diese Zustände zu erhalten, nützt es wenig, wenn Deutsche über fremde Tote heulen.
Ich hasse solche Sülz-Artikel.
Na sowas, da trägst du nun das ganze Leid der Welt auf deinen schmalen Schultern, und nimmst noch Anstoß an so einem kleinen "Sülz-Artikel"? Vielleicht geht's dir ja viel besser, als du glaubst?
Oh, noch einer, der mich angreift, aber nicht meine Argumente!
Kleiner Rhetorikkurs:
Ne, eben nicht! Leid der Welt tragen ist genau das, wogegen ich mich wehre, Betroffenheitskultur hilf keinem. Was tun soll man, nicht Kerzen anzünden. Die Wendung "Vielleicht geht's dir besser, als du glaubst" steht in keinem Zusammenhang mit meinem oder deinem Kommentar oder dem Artikel - das ist nicht mal taktisch sinnvoll, sondern einfach ungekonnt.
Oh, noch einer, der mich angreift, aber nicht meine Argumente! -
Sie haben Argumente? Ich sehe allenfalls diese:
1. Muslime in Eritrea, die Christen vertreiben, handeln in präventiver Notwehr, weil sonst sie von Christen verfolgt würden.
2. Empathie für „tote Flüchtlinge“ ist eine sentimentale Verirrung, weil sie von den realen Ursachen - den „Umständen“, die von der Entwicklungshilfe verewigt werden, - ablenken.
3. Ein Autor, der über die Konfrontation mit dem Grab eines toten Flüchtlings ein Gedicht schreibt (sachlich, nachdenklich, ohne emotionale Rhetorik), dessen Identität und Geschichte recherchiert und darüber einen Artikel schreibt (der auch die Bedeutung der Wanderungsbewegungen von Afrika nach Europa in der frühen Menschheitsgeschichte skizziert) produziert „Sülze“.
Diese Argumente begründen Ihren Hass? Dann sollten wir es dabei belassen.
Dann nochmal humorfrei: Wozu sich an so einem "Sülz-Artikel" aufhalten, wenn man doch vorgeblich wichtigeres zu tun und zu denken hat. Offensichtlich überschätzt du entweder den Artikel oder dich selbst.
Kleiner Kurs in verstehendem Lesen: Im Blog-Text ist keine Kritik an der "Christenverfolgung" enthalten und ein - egal ob deiner Meinung nach "richtiger" oder "falscher" - Vorschlag zur Lösung der Probleme der von dir sog. "Dritten Welt" auch nicht. Nur ein bisschen Empathie, es ist nämlich von einem echten Menschen die Rede.
Danke *****
Mein Argument war: "Religion und Rückständigkeit sind wirklich ein gigantisches Problem."
Der Artikel baut auch auf dem vermeintlichen Vorurteil, daß Detusche alle islamophobe Flüchtlingshasser sind, und schau, er war ein Christ - wie wir .. soll ich mich jetzt schlecht fühlen? Christen sind auch nur Menschen, und jeder, der unnötig leidet oder stirbt ist einer zu viel.
Tatsächlich machen sind die Christen ebenfalls Probleme in der Welt. Gerade bei Toleranzfragen, Bevölkerungspolitik etc. sind Katholiken oder immer mehr Evangelisten/Pentecostalisten und deren Lehre alles andere als harmlos. Daß gerade Christen verfolgt werden liegt wohl auch an 'Religion und Rückständigkeit und mangelnder Aufklärung. Das ist ein Argument.
Meine Emphatie haben alle Menschen, darum weigere ich mich, es akzeptabel zu finden irgendwelche Gefühlsduselei auf Flüchtlinge zu übertragen, wie es die Deutschen gerne machen.
Ich hasse auch den Betroffenheitstourismus nach Auschwitz.
Ich habe immer den eindruck, das tut den Leuten nicht gut. Es macht den Kopf nicht klarer.
Ich finde den Artikel sülzig.
Das sind meine Argumente, die kann man gerne angreifen.
Abgesehen davon, kann jeder Gedichte schreiben, wie er mag, aber nach der Refugee-Welcome-Welle und der Sache in Köln habe ich den Eindruck, daß die Flüchtlingsdebatte eher weniger empathisch sondern realistisch geführt werden sollte.
Okay - aller klar - der Artikel ist von 2010 - damals hätte ich ihn natürlich okay gefunden.
Welcher Humor?
Der original Artikel ist fünf Jahre alt.
Damals war er sicher angebrachter. Ich finde ihn trotzdem nicht gut.
Meine Empathie? Die gilt allen Menschen, sowieso, ständig. Aber Mitgefühl ändert einfach nichts, sonst wär die Welt ein Paradies.
Herzlichen Dank, koslowski,
auch für den Link in die Welt
(ich liebe solche Artikel;-)
LG
archie
Hallo archie,
wie schön, nach so langer Zeit wieder von dir zu lesen! Ich hoffe, es geht dir gut. Beste Grüße und bis bald!
Gut geht es, lieber koslowski,
aber Schreibzeit und Lesezeit ist zu knapp,
reicht so grad noch für einen Gang um den See ..... ;-)
Bis bald!
Lieber Koslowski,
ich schliesse mich dem Dank von Archinaut an. Ich kannte Raoul Schrott bisher nicht.
LG, CE