Ostern

Stammtischdiskurs Vor den Feiertagen kapitulieren die Gutmenschen vor einem Dilemma und ergreifen mal wieder Partei für Mühselige und Beladene. Außerdem rätseln sie über ein Gedicht

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Heute Morgen beim Stammtisch auf dem Siggi erzählte ich von der Aufführung im Stadttheater von gestern Abend. „Am Ende mussten wir als Schöffen abstimmen: schuldig der vorsätzlichen Tötung von 164 Insassen des Lufthansa-Flugs von Berlin nach München oder nicht schuldig. Eine deutliche Mehrheit plädierte für nicht schuldig – wir auch.“ Die Kollegen kannten das Stück „Terror“ von Ferdinand v. Schirach. Es steht seit Wochen auf dem Spielplan, immer ausverkauft, und sorgte nach seiner Premiere im Feuilleton der Lokalzeitung für kontroverse Diskussionen. Der Plot: Ein Kampfpilot der Bundeswehr hatte den Airbus abgeschossen, bevor dieser, von Terroristen an Bord gesteuert, auf die mit 70000 Zuschauern voll besetzte Allianz-Arena stürzen konnte – entgegen der Anweisung der Ministerin, die sich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berief, nach der die Aufrechnung von Menschenleben nicht zulässig sei. Nun musste er sich vor Gericht für sein Handeln verantworten. D. fand es bemerkenswert, dass so viele Theaterbesucher für eine Verurteilung des Majors gestimmt hatten, eigentlich sei es doch selbstverständlich, dass jemand, der 70000 gerettet habe, nicht bestraft werden dürfe. „Ein unauflösliches Dilemma“, meinte N., aber für ihn habe im Zweifel der Schutz von Menschenleben Vorrang vor abstrakten Prinzipien. Alle nickten, auch Frau W. hinter der Kaffeetheke.

Dann berichtete N. vom Offenen Brief eines stadtbekannten Urologen, der die "verkorkste Flüchtlingspolitik" Merkels dafür verantwortlich macht, dass sein Plan, zusammen mit anderen Medizinern erhebliche Summen in eine Seniorenresidenz für Besserverdienende auf einem städtischen Grundstück in der Stadtmitte zu investieren, zu scheitern drohe, weil die Stadt dort Wohnungen für Flüchtlinge bauen lassen will. Er werde mit seinen Kollegen den politischen Widerstand gegen diese Planungen der Paprika-Koalition organisieren und alle rechtlichen Mittel ausschöpfen. “Ein Fall von Wohlstandsverwahrlosung“, meinte N., der als Regionaldirektor einer Versicherung im Ruhestand nach dem Tod seiner Frau die radikalen Überzeugungen seiner frühen Jahre reaktiviert hat. Wir stimmten ihm zu, wenn auch O. zu bedenken gab, dass der Kerl, habe er gehört, sein Handwerk als Urologe verstehe.

O. fand eine Kolumne in der Lokalzeitung „ganz fürchterlich“, in der der Autor sich über alle die Leute empört, die in den Tagen vor Ostern an sein Geld wollen, indem sie ihn auffordern, für alle möglichen guten Zwecke zu spenden. Besonders mies fand er die letzte Textpassage: „Und dann gibt es noch die Menschen, die seit Wochen, in tiefe Meditation verfallen, stumm auf dem Asphalt sitzen und darauf warten, dass es im Hut klingelt.“ „Die Kolumne“, sagte O., „atmet den selben Geist des Urologen: Eure Armut und das Gutmenschentum eurer Unterstützer kotzen mich an.“

Wir seufzten und brachen auf, für die Ostertage war noch einiges zu besorgen. O., unser Poet, las zum Abschied noch ein Gedicht vor:

Ein Hügelchen: drei Handvoll Sand; ein Kreuzchen,
gefertigt aus einer ungeschickt abgebrochenen
Weidengerte; der Fetzen eines Blatts aus einem Heft, bedeckt
mit einem zerkratzten Stück durchsichtigen Plastiks
und Worte (mit roter Tusche):

„Hie is begraben ein Käfer
In ham begraben Katrina Saulius Jieva“

Sie selbst, das ist klar, haben ihn auch umgebracht.

„Denkt mal darüber nach“, rief er, bevor er Kurs auf den Käsestand nahm, „warum der Dichter Kajokas aus Litauen seinem Gedicht den Titel Ostern gegeben hat!“

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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