rätselhaft elitär unpolitisch

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(boot im dunkeln)

ich sitze in einem boot
und die dunkelheit ist das boot in dem ich sitze
Das boot ist ruhige bewegung Dunkel
und früh abends Das wasser ist schwarz
und das boot ist ruhige bewegung Dort drüben
sind das ufer und die häuser Ich höre die wellen
ans ufer schlagen
und ich denke dass die häuser weiß sind
ich sitze in einem boot
und es gibt keinen einzigen menschen
ich sitze in einem boot und ich bin
ein wasser ohne wellen
ich bin kein mensch
und es ist still
denn ich bin kein mensch mehr
ich bin stille in einem boot
ich bin dunkelheit in einem boot
und alles ist blau und es ist dunkel
so dunkel und nass

Ein Ich sitzt in einem Boot, das der ruhigen Strömung des Wassers folgt. Es ist früher Abend, aber schon dunkel. Das Ich stellt sich vor, am Ufer die Geräusche der Wellen und die Helligkeit der Häuser wahrzunehmen. Es bildet sich ein, Teil der menschenlosen Umgebung zu sein: Wasser, Stille, blaue Dunkelheit.

Der Autor verwendet zur Beschreibung der Situation und Gedanken des anonymen Sprechers eine einfache Sprache: Aussagesätze, Wiederholungen, einleuchtende Bilder, das Prinzip der Steigerung in der Schilderung seiner Transformation vom Subjekt zu einem Element der Natur. Es gibt einen Höhepunkt: die lapidare, paradoxe Feststellung: ich bin kein mensch. Außerdem: konsequente Kleinschreibung, kein Reim, kein Metrum.

Hat das Gedicht eine Botschaft? Vielleicht die lässige Imagination einer Situation, in der der Mensch zu Ruhe und Einkehr findet, indem er sich, seine Identität und die Eigenschaften seiner Gattung – verstehen, nach Sinn suchen, aktiv sein, verändern – für einen Moment vergisst. Vielleicht eine nostalgische Erinnerung an eine Zeit, in der eine Einheit von Mensch und Natur noch möglich war? Eine Mahnung vielleicht in Zeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz? Also vielleicht doch nicht ganz unpolitisch. Obwohl: keine Anspielungen auf Krise der Demokratie, Krise der Linken, soziale Krise, Umweltkrise, Flüchtlingskrise und andere Krisen in der Welt. Also doch unpolitisch?

Ich weiß es nicht. Der Autor Jon Fosse und sein Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel erhalten übermorgen den Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie.

Ich glaube, ich fahr mal hin.

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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