Start ins neue Jahr

Ein Dichter macht Hoffnung In seinen Tagebüchern 1989 – 1991 gibt sich Peter Rühmkorf dem Selbstmitleid hin, bleibt aber cool

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Ins neue Jahr waren wir allein, dankbar für eine offenbar erfolgreiche Krebstherapie und mit einem sehr guten Rotwein gegangen. Dann kam die Melancholie, eine diffuse Traurigkeit über das fast gelebte Leben und über die Macht gegenwärtiger und künftiger Corona-Varianten.

Was tun?

Um den See gehen? Leonard Cohen hören.? In den Tagebüchern von Peter Rühmkorf lesen? Die Lektüre des Dichters Notizen aus den ersten Wochen des Jahres 1990 heiterte mich auf:

Er sieht viel fern, überarbeitet alte Gedichte („Wiedermal so ein Jahr den Styx hinunter/beinah ohne Blutvergießen,/bravo!)“ und schluckt viel Lexotanil/Noctamid.

Im Tagebuch notiert er sein Befremden über die politische Lage nach der Öffnung der Mauer („Eine neue Lage, mit der ich positiv nichts rechtes mehr anfangen kann.“) und seine Befindlichkeiten („Vergiftet vom gestrigen Tag: Zigaretten, Hanf, Whisky, Campari, Bier, Wacholder.“).

Er verwünscht alle, die er für seine Feinde hält (z.B. Karasek): „Wenn deine Feinde wenigstens nur ganz flache Orgasmen hätten.“

Schlaflosigkeit und Rückenschmerzen lösen Gedanken an das Ende aus: „Mein ganzes Leben mit Karacho auf dem letzten Tropfen – panischer Blick auf die Reserveleuchte: bin ich eigentlich schon unterm Strich? Wie lang die Maschine wohl hält?“

Die Ehefrau ist auch keine Hilfe, reagiert mit Ironie:

„Als ich zu E. sagte, daß etwas Schlimmes auf mich zukäme, Angstneurose wie seinerzeit nach der Währungsreform oder Depressionsschub wie auf der Höhe der Studentenrevolte, antwortete sie, das kenne sie schon seit einem dreiviertel Jahr. Ah, natürlich wenn der Chefhypochonder mal ein ernstes Leiden anmeldet, heißt es augenblicklich: ich bün all door.“

„Meine liebe Frau … wünscht sich nach noch vielen gemeinsamen Jahren ein gemeinsames Doppelgrab in Ohlsdorf, kleines Kuckloch zwischen den Kisten und verbindende Tuba traversa, wo man durchrieseln kann.“

Sie hatten noch 18 gemeinsame Jahre: Peter Rühmkorf starb 2008, seine Frau Eva 2013. Ihre Urnen wurden auf dem Hauptfriedhof in Altona beigesetzt. Von Gucklöchern und Sichtachsen zwischen den Urnen ist nichts bekannt.

B. und ich nahmen uns vor, in den nächsten Tagen mal wieder unsere Grabstellen in K. zu besuchen, die wir im Frühjahr des letzten Jahres auf dem dortigen städtischen Friedhof gemietet hatten, als wir glaubten, es sei an der Zeit, unsere letzten Dinge zu regeln.





Alle Zitate aus: P.R., Tabu I. Tagebücher 1989 - 1991. Reinbek 1995, S. 181Ff

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

koslowski

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