„Das Gedicht, das ich mal schreiben möchte“, sagte O., „soll leicht und schlank sein und wie beiläufig eine Szene aus dem Alltag in Erinnerung rufen, aber mit einer kleinen Verfremdung, die den aufmerksamen Leser irritiert und ihn auf die Suche nach einem verborgenen Sinn schickt.“
Wir saßen am Morgen auf dem Siggi zwischen Bio-Gemüse, Bio-Käse und Elli’s Fischlädchen. N. hatte erzählt, dass sein Deutsch-Schüler aus Afghanistan in den verbleibenden Ferienwochen konjunktionale Nebensätze pauken wolle, weil seine Lehrerin am Berufskolleg ihm am letzten Schultag Arbeitsblätter mit Temporal-, Kausal- und Konditionalsätzen zum Üben gegeben hatte. Wir hatten den Kopf geschüttelt („unglaublicher Blödsinn“), und ich hatte berichtet, dass ich am Sonntagabend in der Kirche von Schloss H. Dominique Horwitz zugehört hatte, als er aus den Psalmen in der Übersetzung Luthers las („sonores Pathos“).
„Hast du ein Beispiel“, fragte D., „damit ich mir vorstellen kann, womit du dir die Zeit vertreibst, wenn du nicht als Creative Art Director in deiner Werbeagentur tätig bist?“ O. kramte in seiner Jackentasche, holte einen Zettel hervor und las:
Geschichte
An einem grauen Abend
Eines grauen Jahrhunderts
Aß ich einen Apfel,
Als niemand hinschaute.
Ein kleiner, saurer Apfel,
Farbe wie ein Holzfeuer,
Den ich erst am Ärmel
Abwischte.
Dann streckte ich meine Beine aus
So weit es ging,
Sagte mir,
Warum jetzt nicht die Augen schließen
Vor den Spätnachrichten
Und dem Wetter.
Wir schlossen die Augen, dachten einen Moment nach und nickten: Ja, O.‘s Poetik moderner Lyrik hatte was. Aber auf die Suche nach dem verborgenen Sinn wollten wir uns an diesem usseligen Morgen nicht mehr begeben. Wir tranken unseren Espresso und verabredeten uns für die nächste Woche.
Das Gedicht hat Charles Simic geschrieben (C.S., Picknick in der Nacht. München 2015, S.92/93)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.