Brauchen wir einen Vorgesetzten

Anarchie Demokratie ist eigentlich eine Form der Anarchie, aber nicht in der Praxis. Anarchie ist die Abwesenheit von Machtstrukturen, kein Chaos, sondern braucht klare Regeln. In der Anarchie kann es auch einen ÖPNV geben, und einen Präsidenten.

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Der Artikel ist nicht mit "Anarchie" überschrieben, da dieses Wort negativ nach Chaos und Revoluzertum klingt. Laut dem Wikipedia-Eintrag Anarchie beschreibt dieses Wort allerdings nur die Abwesenheit von Machtstrukturen, also das Gegenteil von Monarchie oder auch Hierarchie. Dazu ein Zitat aus diesem Artikel, abgerufen am 23.07.2022: "Allen obigen Anarchien gemeinsam ist per Definitionem die Abwesenheit von Herrschaft, die als repressiver Modus von Macht verstanden werden kann.[3] Demnach sind bestimmte Machtverhältnisse wie die Beeinflussung durch freiwillig angenommene Autoritäten (Mentoren, Trainer, Berater etc.) mit Anarchie vereinbar, werden aber nicht durch Repression erzwungen."
Warum ist der Begriff Anarchie oft negativ besetzt? Eine Antwort steht in Wikipedia:Anarchismus Kapitel Die_Propaganda_der_Tat Zitat dort abgerufen am 23.07.2022:
"Durch die relative Häufung von Attentaten zum Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern kam es in der öffentlichen Meinung zu einer Reduktion des Anarchismus auf Terroranschläge, eine bis heute verbreitete Ansicht." Ebenfalls in diesem Artikel ist der deutliche Hinweis zu lesen, dass "Anarchisten" sich eben gegenüber dem Staat auflehnen, ihn umstürzen wollen, wie beispielsweise die RAF. Dieser Wortverwendung soll in diesem Artikel vollständig widersprochen werden. Darum geht es nicht.
Die einzelnen Menschen, die in einer Anarchie leben, sollen als "autark" bezeichnet werden. Dieser Begriff bezeichnet beispielsweise laut https://neueswort.de/autark "auf niemandes Weisung oder Unterstützung angewiesen" oder laut https://wortwuchs.net/fremdwort/autark/ "sich selbst genügend sowie auf niemanden angewiesen."
Anarchie braucht Regeln
Wenn es keinen Vorgesetzten gibt der ansagt, was getan werden soll, dann braucht es Regeln, die für alle gleichermaßen gelten. Die Regeln müssen durch gemeinsame Übereinkunft bestätigt werden und sind insoweit auch entwicklungsfähig.
Die Regel, dass die Regeln für alle gleichermaßen gelten, muss und soll allerdings nicht zur Gleichmacherei führen. Denn eine Regel bedeutet noch lange nicht, dass jeder das Gleiche tun muss. Es ist zunächst eine Regel, keine Handlungsaufforderung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Beispielsweise gilt in einer Hausgemeinschaft die Regel "Jeder ist für die Einhaltung einer Hausordnung einschließlich des Treppenputzsaufwandes verantwortlich". Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die alte Frau im zweiten Stock, die gar nicht mehr laufen kann, auch Treppe putzen muss. Auch dem Junggesellen, der von sowas nichts verstehen will, aber nicht zu viel Dreck hinterlässt, wird es nachgesehen. Er hilft allerdings der alten Frau bei Besorgungen.
Gehen wir in die Gemeinschaft aller Menschen, also in die Politik, dann ist eine Regel im fünften Gebot der Bibel schon vor mehr als 3000 Jahren festgeschrieben "Du sollst nicht töten". Aber auch "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat". Das Weib und auch Knecht und Magd war damals auch nur passives Eigentum, in diesem Sinne ist diese Regel in der heutigen Zeit eigentlich nur auf das Sacheigentum ohne eigene Entscheidungshoheit (also nicht auf Weib, Knecht und Magd) anzuwenden.
Braucht Anarchie einen Präsidenten?
Nunja, wenn beispielsweise ein Städtetag stattfindet, auf dem gemeinsame Infrastruktur regionsübergreifend besprochen werden soll, dann ist es günstiger, wenn jeder Großraum eine Person dort hinschickt, die von allen gewählt wurde. Dieser präsentiert die Region nur für diesen Zweck, ist also deren Präsident. Wenn nun zufällig jedes Jahr die gleiche Person dort hingeschickt wird, weil anerkannt, eingearbeitet und fähig, dann darf dies durchaus sein. Diese Person ist aber jederzeit abrufbar.
Braucht Anarchie eine Polizei?
Hier ist die klare Antwort NEIN, denn eine Polizei ist passives Machtausübungsorgan, wird von einem übergeordneten Vorgesetzten angewiesen. Wenn Regeln greifen und jeder Einzelne darauf achtet, dass Andere auch die Regeln beachten, braucht es die Polizei nicht. Gibt es jemanden, der regelwidrig irgendwo einbricht, oder raubgierhaft tötet, dann kann es sein dass es eine für diesen Zweck eingesetzte Mordkommission gibt, die dem nachgeht. Es kann auch sein, dass die Personen, die der Mordkommission angehören, immer die Gleichen sind. Sie werden aktiv, wenn die Gemeinschaft dies will. Sie wird es wollen wenn es nötig ist.
Missachtet jemand die Vorfahrt und kommt es zum Unfall, dann ist die Regelverletzung offensichtlich. Was dann passieren wird, ist wiederum eine Regel (auch die Versicherung betreffend) und wird von den autark Handelnden entsprechend ausgeführt. Fährt jemand zu schnell ohne dass es jemand anderes stört - kein Kommentar. Fährt jemand vor einer Schule notorisch zu schnell, dann sollten dies ihm die Betroffenen deutlich ins Gewissen reden oder Verhinderungsmaßnahmen ergreifen. Nummernschilder, damit keiner anonym regelwidrig sich verhält, braucht es.
Was ist mit dem Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV)?
Der öffentliche Personennahverkehr könnte oder sollte etwas sein, was in einer Stadt im Sinne Aller ist. Die Vorteile liegen klar auf der Hand: Zeitersparnis statt Parkplatzsuche, Einsparung von Parkraum, weniger Lärm etc. pp.
Es ist also keine Regel, sondern eine Vernunftsentscheidung, dass ein ÖPNV existieren darf. Nun wird es einzelne Personen geben, die diesem Gedanken deutlich zur Realisierung verhelfen, also Gleise bauen, die Fahrerrolle übernehmen etc. Auch ist es eine Entscheidung der Kommune, der Gemeinschaft der autark handelnden Personen, ob der ÖPNV etwas kostet oder aus einer gemeinsamen Kasse, die von allen gefüllt wird, bezahlt wird. Denn der Busfahrer oder Arbeiter am Gleis muss etwas für seine Arbeit erhalten.
Braucht es Geld?
Es ist durchaus eine früh-anarchische Auffassung, alles Geld und privaten Besitz abzuschaffen. Doch wie im weiteren gezeigt wird, dies führt zu Chaos, weil alle gleich gemacht werden.
Was ist mit den unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder einer anarchischen Gemeinschaft?
Dies ist nun fast die Hauptüberlegung dieses Artikels. Selbstverständlich keine Gleichmacherei, das dürfte schon die vorigen Ausführungen nahelegen.
Es gibt Menschen, die gern arbeiten. Sie freuen sich dass sie nützlich sind, wenn es ihnen dazu noch gut geht, alles in Ordnung. Dann gibt es aber auch Menschen denen das Arbeiten schwer fällt. Sie kommen früh nicht aus dem Bett, diskutieren stattdessen abends lang rum mit Alkohol, oder spielen nur Computerspiele. Nunja, jeder sollte ein Grundeinkommen oder das Recht auf die Erfüllung seiner grundlegenden Bedürfnisse haben. Wenn er damit zufrieden ist, so sei es so. Möglicherweise sammelt dieses Mitglied der Gesellschaft Wissen, tauscht sich aus, ohne dass dies irgendwie bezahlt wird. Auch denjenigen, der aufgrund seiner körperlichen Fähigkeiten weder gut praktisch arbeiten kann noch gut im Denken ist, muss die Gemeinschaft gewähren lassen. Das sollte eine der Regeln sein.
Getreu dem egoistischen Grundsatz "Leiste etwas, dann kannst du dir was leisten" arbeitet man ja nur, wenn man dafür ausreichend bezahlt wird, also freiwillig nicht. Aber ist dieser Grundsatz wirklich menschlich oder eher kapitalistisch neoliberal? Angesichts der vielen Menschen, die schwierige Jobs ehrenamtlich oder für ein nur geringes Entgelt ausführen, vielleicht nein. Es werden also einige von sich selbst viel arbeiten für wenig Geld, andere werden wenig arbeiten und Glück mit dem Reibach haben, das ist so. Andere sinds zufrieden mit wenig und (scheinbar) nichts tun.
Es gibt aber noch einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Menschen. Alpha-Typen und Andere. Eine alte und nicht offiziell anerkannte Denkweise Wikipedia: Temperamentenlehre, auch oder besser in www.mensch-und-psyche.de/typenmodelle/temperamentenlehre, ordnet die Menschen in die vier Kategorien Feuer, Wasser, Erde und Luft oder griechisch Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker und Sanguiniker. Wenn man Menschen kennt im Bekanntenkreis, dann kann man diese Typen teils gut zuordnen. Zu beachten ist allerdings, dass die Zuordnung nicht starr ist, es meist Mischtypen gibt und die Typzuordnung auch stark von der Situation abhängt. Bezüglich Gartenarbeit bin ich Phlegmatiker, von selbst rausgehen, wozu. Wenn man mir aber sagt, von dort bis dort sei umzugraben, dann mach ich das. Anders ist das beim Schreiben dieses Artikels, dies mache ich von mir aus in der Eigenschaft als Feuer- oder Alphatyp, der sich also wichtig machen will.
Würde man die Menschen in eine Rolle hineinzwängen, die nicht ihrem Typ entspricht, dann funktionieren sie schlecht. Es kommt wenig dabei heraus. Genau daher muss der autarke Mensch in einer Anarchie eben selbst entscheiden, wo und wie er sich einbringt.
Ein Problem sind die Alphatypen oder Choleriker. Sie stören die in sich ruhende Gesellschaft der Wasser- und Erdetypen, die entweder gerade beim Nachdenken über die Unzulänglichkeiten sind oder beim Auspendeln. Die autarke anarchische Gemeinschaft muss mit ihnen umgehen können. Sie bringen die Gesellschaft nach vorn (nicht alle, manche sind nur Wichtigtuer). Es besteht insgesamt, nicht nur in einer Anarchie, die Gefahr des Mobbings derer, die sich wirklich für Fortschritt und Bewegung einsetzen. Diesem Disput muss sich die Gemeinschaft stellen. Es gab im Jahre etwa 0032 so einen Fall, dass ein Mensch von der einen Gruppe erst mit Palmwedeln bejubelt wurde, in der darauffolgenden Woche aber von der Masse des Volkes mit "hinweg mit ihm, kreuzige" beschrien wurde.
Was ist mit persönlichem Besitz, Reichtum, Privateigentum an Produktionsmitteln?
Dies ist das zweite wichtige Thema. Anarchie bedeutet nicht Gleichmacherei. Ist jemand fleißig oder hat Glück im Leben, und kann dazu noch gut organisieren, dann sind das gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Beitrag in der autark anarchischen Gesellschaft. Einzige Voraussetzung ist, dass diese Person oder der Personenkreis nicht nach der Macht über Andere strebt. Nehmen wir einmal konkret lebende Menschen. Reinhold Würth wird laut Vermoegenmagazin: Die reichsten Deutschen auf Platz 7 gesetzt. Sein Vater hat 1945 im schwäbischen Künzelzsau fleißig mit Schraubenhandel angefangen (siehe Wikipedia: Würth-Gruppe) - ein verlässliches Unternehmen. Die Albrecht-Brüder bzw. ihre Nachfolger sind ebenfalls in dieser Liste. Dank ihnen bekommen wir auch regionales Gemüse und andere Waren des Täglichen Bedafs zu erschwinglichen Preisen optimal organisiert. Freilich sind beide Unternehmen in die kapitalistischen Weltwirtschaft integriert, wie sonst. Das ist aber ein anderes Thema.
Vorausgesetzt, kein Machtanspruch, ist also Reichtum kein Mangel für Anarchie. Dies hängt eng mit der Alphatypenfrage aus dem Vorkapitel zusammen. Es gibt eine Regel, die nicht erst erfunden wird sondern im Grundgesetz steht: "Eigentum verpflichtet". In diesem Sinn sollen diese Menschen für die Gesellschaft da sein, als ein Teil der Gesellschaft.
Es gibt andere reiche Menschen mit Machtansprüchen, unverhohlen oder hinterrücks. Die wollen wir nicht in der Anarchie.
Ist Demokratie mit Anarchie vereinbar?
Theoretisch ist Demokratie eine Form der Anarchie, denn die gewählten "Vertreter des Volkes" sind vom Volk gewählt, nur auf Zeit, und sind im eigentlichen Sinn Diener.
In der Praxis werden die Vertreter aber meist nicht frei gewählt sondern stellen sich mit viel Pomp der Wahl, bis man ihnen zustimmt. Es sind bekannte Personen, mit ihren Verbindungen zur Macht und Einflussnahmen seitens der Mächtigen, nicht nur Personen sondern auch Ideologien. Es ist also ein Unterschied der Theorie und der Praxis. Die Praxis ist anders.
Dies betrifft die Legislative. Die Exekutive auf Zeit bestimmt ist ebenfalls anarchisch zulässig, solange sie im Sinne ihrer Wähler handelt. Eine Exekutive in gewachsenen Dauerstrukturen, sowohl Beamte als auch spezielle staatliche Organisationen, die oft auch unter Kritik stehen, sind anarchisch nicht gerechtfertigt.
Letzter Abschnitt: Hierarchie oder Anarchie in der Arbeitswelt
Sonst wäre das Thema verfehlt "Brauchen wir einen Vorgesetzten". Die Diskussion wird an vielen Stellen breit geführt. In einer kleinen Firma wird der Firmenbesitzer angeben, was er denkt und braucht. Er hat das Geld und die Verantwortung. Aber er wird seinen Angestellten vertrauen - oder geeignete Personen einstellen. Das funktioniert. In der Softwareentwicklung redet man seit einigen Jahren von "agil" und meint damit, dass das Team und der Arbeitsfortschritt die Dinge bestimmt und nicht mehr fremdbestimmte Lasten- und Pflichtenhefte. Man traut sich aber nicht auf Anarchie zu setzen sondern bestimmt einen "scrum master". Halbherzig. Den scrum master könnte man allerdings auch ansehen als den vom Team auserwählten Diener, verantwortlich für die Koordination der Entwicklungsschritte, das wäre anarchisch. Die Aufgabenstellungen bestimmt freilich nicht das Team selbst sondern die sogenannten Stakeholder (die "Anspruchsberechtigten", die die Lösung haben wollen). Man hat eine Arbeitsteilung, jemand braucht etwas, andere machen das. Das ist kein Widerspruch zur Anarchie. Nur die Umsetzung (Einsetzung fremdbestimmter Teamleiter, die sowohl die Aufgaben als auch die Fähigkeiten der Mitarbeiter nicht immer richtig einschätzen) ist sowohl gegen die effektive Arbeit als auch nicht anarchisch.
Was will der Autor uns damit sagen?
Das Nachdenken über Anarchie könnte berechtigte Kritik an manchen Stellen der Gesellschaft unterstützen und lösungsorientiert sein.
Ich habe vor, in einem zweiten Teil das Verhältnis von Demokratie zu Alpha-Typen zu beleuchten. Beide sind in diesem Artikel angeklungen aber noch nicht in den Zusammenhang gebracht.
Links
[1] https://www.spiegel.de/kultur/anarchie-bleibt-das-fernziel-der-menschheit-a-2098565e-0002-0001-0000-000014020636 SPIEGEL Gespräch »Anarchie bleibt das Fernziel der Menschheit« Der Alt-Anarchist Augustin Souchy über Staat, Freiheit und Revolution
Von Hans Halter 17.04.1983, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 16/1983
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