Friedenspreis für Serhij Zhadan: Kriegsversehrtes Denken
Meinung Der Friedenspreis für Serhij Zhadan ist eine richtige Entscheidung und empathische Ehrung. Der Verweis auf das „Offensichtliche“ des Krieges leuchtet dagegen weniger ein
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet
Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
„Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden“, hat Serhij Zhadan in seiner berührenden Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt. Darüber musste die Autorin, insbesondere nach Lektüre dieses Beitrags, nachdenken.
Vor dem Denken sind Gefühle: Die Rede des engagierten Künstlers treibt auch ihr die Tränen in die Augen. In eindringlicher Sprache schildert Zhadan das Leid, ein dem Krieg notwendigerweise unangemessenes Sprechen und die Notwendigkeit, sich zu wehren – denn das ist nur gerecht. Diese Notwendigkeit erscheint als etwas Größeres als die Notwendigkeit des Friedens. Es gibt demnach eine Chronologie: erst Gerechtigkeit, dann Frieden.
Seine Rede ist einerseits eine dringende Bitte, ja ein Flehen um
cht. Diese Notwendigkeit erscheint als etwas Größeres als die Notwendigkeit des Friedens. Es gibt demnach eine Chronologie: erst Gerechtigkeit, dann Frieden.Seine Rede ist einerseits eine dringende Bitte, ja ein Flehen um Empathie mit den Angegriffenen – und andererseits eine Abwehr derjenigen, die es aus seiner Sicht daran fehlen lassen: „europäische Intellektuelle und Politiker“, die „den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären“. Dabei verschiebt er die Begriffe, und das muss er wohl auch, jeder täte das, im Krieg. Als Gegenteil von Frieden nimmt der Friedenspreisträger gewissermaßen nicht den Krieg wahr, sondern die Ungerechtigkeit. „Wir haben ein verschobenes Wahrnehmungs- und Bewertungssystem, veränderte Bedeutungsbezüge, veränderte Maßstäbe für Angemessenheit“, meint er selbst.Das trifft auch für hiesige Debatten zu. Gewissheiten bröckeln, neue Gewissheiten wuchern auf den Trümmern der alten. Doch weder die Apologeten von Waffenlieferungen können sicher sein, ob sie die Ukraine (und Europa) dem Frieden näherbringen, noch können die Apologeten eines wie auch immer gearteten, aus Sicht der Ukraine notwendigerweise ungerechten Waffenstillstands wissen, ob dieser dann hielte und zu welchem Preis er erreichbar wäre.Umso irritierender ist, dass sowohl die Welzers als auch die Strack-Zimmermanns den Eindruck erwecken, sie wüssten den Weg aus dem Krieg. Es ist, als beugten sie sich über den grünen Tisch, auf dem er als Modellbau liegt. Sie verschieben die Truppen und Ideologien und setzen die Lok der Gerechtigkeit auf die Gleise. Aber der Krieg ist keine Modelleisenbahn. Er zerstört die Infrastruktur nicht nur der materiellen Versorgung, sondern verstümmelt auch die des Denkens. Er hat seine eigene Logik und infiziert damit jeden, der in seine Nähe kommt. Der Krieg ist der Krieg ist der Krieg. Ein eifersüchtiger Gott. Er duldet keinen Gedanken neben sich.Frieden und GerechtigkeitDen Übergriff von Hass und Gewalt auf die Sprache schildert Zhadan – und kann sich ihm selbst kaum entziehen. Er darf es nicht mal – es wäre illoyal. Wer angegriffen ist, muss Partei er- und zu den Waffen greifen, auch in der Sprache. Wer Unrecht erleidet, will Gerechtigkeit schaffen. Zhadan erzählt, dass man im Krieg nur die Gegenwart wahrnimmt: „ein Versinken in dem Raum, der dich umgibt, eine Konzentration auf den Augenblick, der dich ausfüllt“. Es gibt keinen Raum für Zukunft. Es gibt nur den einen Standpunkt: den, von dem aus man sich töten oder andere sterben lässt. Dazwischen ist nichts. Der Tod entscheidet in seiner eisigen Einfachheit. „Wir stecken in dieser dichten Erstarrung, in der kalten Nicht-Zeit“, sagt Zhadan.Man kann versuchen, das mitfühlen, es fühlt sich schrecklich an. Und doch kann man fragen, ob das stimmt: Gibt es wirklich keinen Frieden ohne Gerechtigkeit – also: zunächst? Und wann ist sie erreicht? Wie viele Leben soll sie „kosten“? Ist ein Frieden zu gewinnen, wenn auch Menschen, die nicht in der brutal attackierten Ukraine leben, die Dinge exakt so wahrnehmen wie die Angegriffenen, bis in die letzte Konsequenz?Vielleicht ist es so, dass es nur einen ungerechten Waffenstillstand geben kann, weil jeder Waffenstillstand ungerecht wäre: Das Blut der Opfer bliebe ungesühnt. Vielleicht ist es sogar so, dass es einen ungerechten Friedensvertrag geben MUSS, irgendwann. Das wäre furchtbar, und Zhadan hätte wohl recht damit, dass ein echter Frieden ohne Gerechtigkeit nicht möglich ist. Hier stellt sich wieder die Frage: Wer kämpft für die Gerechtigkeit des Friedens? Und mit welchen Mitteln? Ist dieser Kampf im Krieg überhaupt möglich?Es könnte sein, dass ein gerechter Frieden, ähnlich wie das Paradies, eine Handlung aufschiebende Zielvorstellung ist, da es in diesem Leben nicht erreichbar wäre. Einen gerechten Frieden anzustreben, hieße dann, den Krieg so lange zu verlängern, bis niemand sich mehr daran erinnert, wie Frieden geht. Gerechtigkeit in der Kriegslogik heißt: Der Feind muss büßen. Er muss bestraft werden. Jedes Opfer muss gesühnt werden. Der Aggressor darf nicht davon kommen mit seinen üblen Taten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es scheint offensichtlich. Aber wohin führt es? Wie viele Abstriche von der Gerechtigkeit zu machen sind, wie bitter der Kompromiss sein muss, wird nicht im Schützengraben auszuhandeln sein.Manipulation des DenkensWenn man nicht mit jedem Gedanken Zhadans konform geht, heißt das aber nicht, keine Empathie zu empfinden. Empathie impliziert nicht notwendigerweise, sich mit den vom Angreifer aufgezwungenen Kriegslogiken und -emotionen zu identifizieren. Wer mit dem Verletzten wehklagt und gegen den Angreifer wütet, hilft dem Angegriffenen am Ende weniger als ein Sanitäter, der ihn aus der Gefahrenzone schafft und die Wunden verbindet. Oder als der, der nach Wegen sucht, das Bombardement zu stoppen, weitere Opfer zu vermeiden. Der Krieg erhitzt die Gemüter, doch für den Frieden braucht es Kühle. Erst sie macht handlungsfähig, indem sie ein Denken außerhalb der Kriegslogik ermöglicht.Deshalb irritiert, wie zurzeit, ähnlich der üblich gewordenen Gesinnungsprüfungen, hitzige Empathiechecks vorgenommen werden. Denn man kann ja das eine empfinden: Mitgefühl, und das andere nicht unterlassen: Auswege suchen. Der auch in dieser Zeitung benutzte Verweis auf „das Offensichtliche“ macht ebenfalls stutzig, suggeriert er doch, dass etwaige Andersmeinende einfach nur alles genau so sehen müssten, wie die empathisch-Erleuchteten, um zu deren einzig menschlichen und gerechten Schlüssen zu kommen. Auch Zhadan beschreibt dieses Offensichtliche: „Ein Verbrecher ist ein Verbrecher. Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht.“So offensichtlich das scheinen mag, es fehlt die Unterscheidung. „Das Offensichtliche“ – der Verbrecherkrieg gegen die Ukraine und die daraus folgende Unterstützung der Angegriffenen – ist das eine. Das andere ist kontroverser: Was folgt daraus? Welche Unterstützung ist sinnvoll? Helfen Sanktionen den Ukrainern? Undsoweiter. In der unterschlagenen Unterscheidung liegt eine Manipulation des Denkens, gegen die sich zu wehren mitten im Krieg schwierig ist – nicht nur wegen des sofortigen Vorwurfes mangelnder Empathie. Die Schwierigkeit besteht darin, empathisch zu empfinden und zugleich kühlen Kopf zu bewahren, sonst bedient man die Notwendigkeit des Krieges, und diese Notwendigkeit, gierig und grell, lässt die Notwendigkeit des Friedens immer blass aussehen. Wohl auch deshalb lassen viele, die nicht in einem Kriegspartei-Land leben, sich verführen von jenem „Offensichtlichen“. Damit sind sie jedoch nicht mehr weit entfernt von einem „Jargon der Eigentlichkeit“.Friedenspreis für Serhij Zhadan ist richtige EntscheidungEin Denken, in dem es nur eine Wahrheit und nur eine Schlussfolgerung geben darf – „das Offensichtliche“ –, arbeitet dem Krieg zu. Der Verweis auf „das Offensichtliche“ gaukelt, dessen Logik folgend, eine Eindeutigkeit vor, die erst der Krieg immer neu herbei bombt, indem er jede Vieldeutigkeit zerstört. Alles Nicht-Eindeutige dient im Zweifel der Sabotage, also dem Feind. Es gibt dann keine Lücke mehr, durch die ein Gedanke oder ein Wort schlüpfen könnte – als müssten auch diese strammstehen „in dieser dichten Erstarrung“ – als wäre alles andere unempathisch. So greift der Aggressor auch dort an: in den Köpfen.Der Friedenspreis für Serhij Zhadan ist eine gute, eine richtige Entscheidung, eine notwendige Provokation, eine einfühlsame, empathische Ehrung. Der Verweis auf ein quasi-ontologisches „Offensichtliches“ dagegen leuchtet weniger ein. Es bleiben Fragen, die keinen Preis und keinen Orden bringen: Ist ein gerechter Frieden in einem ungerechten Krieg möglich? Man wünschte so sehr, dass ja. Aber womöglich sind schmutzige Verhandlungen für einen ungerechten Frieden immer noch sauberer als schmutzige Bomben.
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