Das Streiflicht macht nicht nur Studienräte glücklich

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Das Streiflicht der Süddeutschen ist ja quasi die höhere Schule des Boulevards für den - grob in einen Sack gesteckt - Bildungsbürger. Seit 1946 täglich oben links. Heimlich kann er da, bevor er sich den großen Ereignissen zuwendet, erstmal nach Castrop-Rauxel schielen und schauen, was so unerhört für eine DPA-Meldung gereicht hat. Ein alltägliches Kuriosum von hinterm Mond oder aus der Welt, dann muss die Muse küssen, und das tut sie nicht immer aber doch bewährt recht leidenschaftlich. Ich jedenfalls bin ein großer Bewunderer des Streiflichts. Es ist, als läse man zu Hause im Café.

Man kann es aber auch im Café lesen. Dann ist es so, als wäre man zuhause. Anywhere in the world: Ich lese das Streiflicht jeden Tag und berichte meinem Liebsten darüber. Er verdreht dann die Augen, ich aber weiß, dass auch er ein heimlicher Bewunderer ist. Ich glaube, es gibt viele heimliche Bewunderer des Streiflichts. Ja, es ist anzunehmen, dass es ohne das Streiflicht die SZ überhaupt nicht mehr gäbe!

Drei Stunden ungefähr – stand irgendwo zu lesen - recherchiert, konstruiert, philosophiert der Autor an seinem Text. Er kommt vom Besonderen ins Allgemeine oder umgekehrt, macht kurz einen Schlenker zu Goethe, Schiller oder einem anderen aus dem Kanon und das so leichtfüßig, dass es wie Muttermilch und nicht hochstaplerisch klingt. Etwa drei Pointen werden platziert, die Form ist Preußen: 72 Zeilen. Hauptteil, Mittelteil, Schluss. Kurz vor dem Andruck ist die Nadel gestrickt, was dann nicht stimmt, soll der aufmerksame Leser richtig stellen.

Wikipedia sagt, das Streiflicht will "eine Art Leuchtturm im Sturmgebraus der täglichen Hiobsbotschaften" sein, das hätte einer seiner Erfinder, der SZ-Redakteur Franz Josef Schoningh gesagt. Der exponierte Unernst sei eine "Liebeserklärung an die Leser" meint Claudius Seidl in einem Interview. Das Streiflicht - im Unterschied zum Leitartikel - muss angeblich von allen Redakteuren abgesegnet werden.

Und heute? Bei der Lingerie-Kette Vicoria?s Secret in New York erschnüffelte ein Hund jüngst Bedbugs. Eine Steilvorlage für den Autor? Jedenfalls liest es sich so. Da schwadroniert er auf hohem Niveau vom Gilb an deutschen Vorhängen, das weg ist, seit es die alte Bundesrepublik nicht mehr gibt und mit ihr die Vorhänge und Zugeknöpftheit, stattdessen sehr viel, viel zu viel Privates im Öffentlichen (1). Er spaziert weiter zum berühmten Beiß, so nennt der Bayer Ungeziefer aller Art (das heuer uns Deutsche plagt) im lokalpatriotrischen Wettstreit, welcher Beiß durchtriebener ist: der Sendlinger oder der Untergießinger (2). Dann steuert der Autor zielsicher zum Bedbug und ein bisschen Schadenfreude ist auch dabei: Beim Feind Bettwanze hilft eben keine Pump Gun und kein Cobra-Kampfhubschrauber, Amerika ist machtlos, das Geschäft musste geschlossen werden (3). Und mit Brecht wird gezwinkert: "Den Haien entrann ich. Den Tiger erledigte ich. Aufgefressen wurde ich. Von den Wanzen." Das Streiflicht ist wunderbar, nur Nacherzählen geht nicht, man muss es schon selbst lesen.

Doch wie mit allem, was gut ist, da kommt einer und wittert die Zweitvermarktung, die Marketing-Leute schreien Geschäft. Die gesammelten Glossen erscheinen inzwischen in Buchform (mit Nennung der Autoren!), so wie das Rätsel der ZEIT, um die Ecke gedacht. Wer sich das ausgedacht hat. Das ist als ob, als würde man, als fände nächstes Jahr die nächste WM statt. Da halte ich es lieber wie Michael Ballack: "Ich habe keine Rituale - bis auf Sachen, die man immer wieder gleich macht" - täglich das Streiflicht lesen.


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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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