Netflix, Amazon, Apple TV: Mir ist die Lust am Streamen vergangen
Meinung Die Blütezeit des Streamens ist vorbei. Das Angebot ist zu gigantisch, es gibt zu viele Plattformen, ohne Kanon schaut jeder etwas anderes. Wie Streaming zur unsozialen Solo-Veranstaltung verkommen ist – und warum unsere Autorin aussteigt
Große Erleichterung, ich habe Streaming-Fatigue. Heißt: Ich muss in keine erste Staffel von Lebenszeit verschlingenden sechs Staffeln mehr einsteigen, die Last ist abgefallen, mich zu einer Serie zu verpflichten, die Sorge ist weg, irgendein „geniales“ Serien-Epos zu verpassen. Nach vielen Jahren exzessivem Serienkonsum, bekannt als Binge Watching, ist mein epischer Atem zu Desinteresse und großer Genervtheit verpufft.
„Diplomatische Beziehungen“ – Eine Folge reichte mir
Streaming-Fatigue. Die Symptome dafür wurden zuletzt immer offenkundiger. Es fiel mir leicht, die angeblich so gute Thriller-Serie Killing Eve nicht weiter zu verfolgen. Warum sollten mich auch die pro forma tieferliegenden Motive einer psychopathischen Serienkillerin interes
ychopathischen Serienkillerin interessieren? Ihr geheimnisvoller Sadismus ist kein psychologisch nachvollziehbares Asset, sondern wirkt wie in Auftrag gegeben von Netflix. Kluge Politserien haben mich dagegen immer interessiert. Ein Knaller, die dänische Serie Borgen zum Beispiel. Man lernte, wie es so läuft in der Politik und was schieflaufen kann, wie in Krisen die Nerven blank liegen. Enervierend und unseriös jedoch die leichtfertige Darstellung von den dramatischen Seiltänzen internationaler Diplomatie in der US-amerikanischen Netflix-Serie Diplomatische Beziehungen. Eine Folge reichte mir, um mich nicht weiter verstricken zu wollen. Besonders sonntags ereilt mich zuletzt immer öfter die Sehnsucht nach linearem Fernsehen, neulich führte mich meine lineare „Fern-Sehnsucht“ zum Tatort. Es war fast wie damals, sonntagabends Ende der 1990er, Anfang der Nullerjahre, nur dass mein Ex-Freund fehlte. Wir waren Tatort-Fans, schauten gern Wer wird Millionär und wir waren große Leser. Das Einzige, was wir als Paar deshalb überhaupt in Serie „streamten“, natürlich analog, waren die nächsten Seiten etwa des neuesten Harry Potter-Romans. Ich erinnere mich noch sehr gut an J.K. Rowlings gut gemachte Cliffhanger, also ihre extrem spannenden Überleitungen am Ende eines Kapitels zum nächsten – wobei dann trotzdem immer einer einschlief. Rückblickend erscheint mir unser Konsum von Kultur jedoch kommunikativer, sozialer, interaktiver. Wir bedienten uns an einem breiten, kulturellen Kanon, der noch den Austausch mit der Oma ermöglichte, in einer Zeit, als „kultig“ noch die griffige Beschreibung eines kulturellen Vergnügens abseits vom sogenannten Mainstream war, selbst wenn es sich eigentlich um Mainstream handelte.Der Streaming-Wahnsinn hat das alles kaputt gemacht. In sich geschlossene Mehrteiler gehen noch, oder höchstens zwei Staffeln, aber die vierte Staffel des wirklich sehenswerten Familiendynastie-Dramas Succession, das ich mir nochmal veritabel bis tief in die Nacht gegeben hatte? Ich möchte wie einst Bartleby lieber nicht. Außerdem sehr nervig: Ich bräuchte dafür jetzt auch noch zusätzlich ein Sky-Abo.Zuletzt schaute ich auch nochmal schnell state of happiness auf Arte. Die norwegische Serie spielt Ende der 1960er in einem norwegischen Fischerdorf, das sich nach Ölfunden in eine moderne Großstadt verwandelt. Sehr spannend zu verstehen: Norwegen könnte heute Esso gehören, wenn nicht engagierte Politik … – aber wem sollte ich davon erzählen?Damals – Streamen war das neue LesenDamals noch, Streamen war Hochkultur. „Der Roman der Gegenwart ist eine DVD-Box: Amerikanische Serien wie The Wire (…) sind längst zum ernsthaften Konkurrenten der Literatur geworden“, schrieb der Literaturkritiker Richard Kämmerlings 2010 in der FAZ. Serien seien eine „Comédie humaine der Gegenwart“, zitierte er den Berliner Schriftsteller Martin Kluger oder die New York Times, die schon 2006 über die Serie geurteilt hatte: „So nahe wie in dieser Serie sind bewegte Bilder der Tiefe und dem Nuancenreichtum des Romans noch nie gekommen.“ Kurz: Streamen war wie Balzac oder Joyce lesen, man musste sich die Geschichte erarbeiten wie Literatur. Ich hatte begeistert mit und ohne meinen Mann, ohne jedes schlechte Gewissen The Wire geschaut, Downtown Abbey, Mad Men. Aber jetzt: Streaming-Fatigue. Leichte Symptome traten vor etwa drei Jahren auf. Ich unternahm mit meinem alten Freund S eine Kulturreise. Wir reisten auf den Peloponnes. Tagsüber klapperten wir das mythische Griechenland ab. Abends auf dem Balkon streamten wir „Bildungsfernsehen“. Bei einer Dose Mykonos auf dem Tablet von S vertieften wir mit Die großen Mythen die Eindrücke des Tages. Ein Jahr später war dann mehr Unterhaltung angesagt, wir schauten Emily in Paris, eine köstliche Serie über eine Amerikanerin aus Chicago, die von ihrer Marketingchefin in die Pariser Dependance abgeordert wird, was zu köstlichen Kulturclashes führt. S ist Historiker, abends im Bett hört er History-Podcasts auf Englisch. Dass er sich genauso herrlich amüsierte wie ich, ein Adelsschlag.Zuerst schien sich die Idee, abends etwas zu schauen statt im Süden über Gott und die Klimakrise zu diskutieren, zu bewähren. Indes – auf Mallorca gab es Streit. Wir stritten, als wären wir ein Paar, es kam zu Machtkämpfen und Kränkung, es war lächerlich. Was war geschehen? Voller Vorfreude auf unser Abendprogramm hatte S einige Serien „dabei“, sogar einen Stick für den Fernseher im Ferienhaus. Manche funktionierten dann jedoch nicht, aus lizenzrechtlichen Gründen. Statt also den berühmten Alltags-Ballast abzuwerfen, schlugen wir uns nun im Urlaub mit der Qual der Wahl und Lizenzrechten herum. Ich dachte an meinen Mann. Einmal, in den Ferien, hatten wir uns auf zwei Romane beschränkt. Abends zählte jeder bang die Seiten seines Romans, dann vergaß ich auch noch seinen Johann Holtrop am Strand. Was zuerst eine Katastrophe war, entfaltete „poetische Wirkung“. Es öffneten sich rätselhafte Räume: wer hatte ihn mitgenommen? Ein Mann, eine Frau? Ob die Lektüre erquickend wäre?Streaming dagegen ist wie ein Stapel viertklassiger Paperback-Krimis, die man sich auf den Kindle geladen hat. Womit meine massive Überforderung ganz gut beschrieben ist. So viele Angebote, so viele Kanäle. Streng genommen war Emily schon Zeitverschwendung, die Serie ist nun wirklich kein gestreamter Balzac. Und von welchen Must-Sees die Leute nicht alles reden! Sie laufen auf Sky, Apple TV, Amazon Prime. Ein Muss war zum Beispiel die schwedische Serie Liebe und Anarchie, die davon handelte, wie ein alteingesessener Literaturverlag schrullig versucht, den Anschluss ans digitale Zeitalter zu finden, daneben die Emanzipationsgeschichte der Unternehmensberaterin Sophie, die sich in einen deutlich jüngeren Mann verliebt.A propos Verlieben. Möchte man bei einem Date gefragt werden, welche Serien man gut gefunden hat? So wie: bist du mehr Pop oder Grunge? Etwas Schrecklicheres kann ich mir wahrlich nicht vorstellen. Aber, es passiert. Was soll das bringen, wenn es keinen Kanon mehr gibt, nicht im Film, in der Musik, nicht in der Literatur und schon gar nicht in einer Streaming-Welt mit zig Anbietern und zig Angeboten? Auch die Frage, was der Geliebte wohl gerade treibt, just in dem Moment, erübrigt sich. Höchstvermutlich guckt x oder y wie Krethi und Plethi irgendeine verfluchte Serie.Letzte Woche traf ich einen Bekannten. Und so als könnten wir Menschen nur noch von Menschen aus Serien berichten, erzählte er völlig aus dem Nichts, dafür mit befremdlichen Enthusiasmus eine Szene aus Killing Eve. Wie die Serienmörderin mal wieder spektakulär jemanden um die Ecke gebracht hatte. „Verstehst Du? Alle konnten zusehen! Ha, ha, ha!“ Ich verstand ihn nicht. Wo war die „Meta-Ebene“? Es gab ja eine, wusste ich, meine Freundin U hatte mir so ihr Hängenbleiben an der Serie gerechtfertigt. Ich wechselte das Thema, wegen der Streaming Fatigue und, aus Höflichkeit. Meine Fatigue, verstehe ich, ist weniger Krankheit, ich bin auf dem Weg der Besserung. Ab Mittwoch wird die preisgekrönte Fussballvereinsserie Ted Lasso die einzige sein, die ich jeden Mittwoch noch linear streamen werde – en famille, mit meinem Sohn.