Das "Wechsel" vor der Wirkung

Netzforschung Das Google-Institut sucht noch Forschungsthemen. Statt um e-business und e-governance zu kreisen, sollte man das Kernziel avisieren: die Gesellschaft

An klaren Auffassungen über die „Wechselwirkungen zwischen Internet und Gesellschaft“ mangelt es ja nicht. Das hat gerade erst die im New Republic veröffentlichte Kritik des Netzskeptikers Evgeny Morozov am neuen Buch des Netzenthusiasten Jeff Jarvis (Public Parts) gezeigt. Es geht um Privatsphäre und um deren Preisgabe im Internet. Während Jarvis diese Entäußerung auf dem Papier als ungeahnte Möglichkeit zur Optimierung des sozialen Miteinanders, gar als Schutz lobpreist, bemüht sich Morozov im Netz ausführlichst, seiner Verachtung für die „abgeschmackten Thesen“ eines „Internetintellektuellen“ Ausdruck zu verleihen. Kommentare unter dem Originaltext im Netz: vier. Debattiert wird anderswo, in der Blogosphäre, unter eingeweihten Gleichgesinnten, die sich auf teils anspruchsvolle. aber doch immer subjektive Mutmaßungen berufen. Gutes Netz. Böses Netz. Davor steht ratlos eine gesellschaftliche Mehrheit, genannt User.

Etwa zur gleichen Zeit, in einem Hotel mit futuristischem Ambiente an der Spree in Berlin: Das Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft, wegen seiner millionenschweren Anschub- finanzierung durch den größten aller Netzkonzerne besser bekannt als „Google-Institut“, veranstaltet sein Gründungssymposium. Das Ziel der Veranstaltung: Fragen finden. Das Institut weiß nämlich noch nicht genau, wie es seinem Ziel, die „Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Internet“ zu begreifen, nahekommen will. Auf jeden Fall wissenschaftlich.

Also diskutieren Netzexperten aus aller Welt über: Open Data, Wisdom of the Crowd, Public Privacy, e-governance, e-business, e-rulemaking, e-democracy; über all das also, was dem Handlungsbedarf im sich rasend schnell entwickelnden Netz schon Rechnung trägt, zur Klärung jener „Wechselwirkungen zwischen Internet und Gesellschaft“ aber noch kaum mehr beigetragen hat als die Gefechte zwischen Skeptikern und Überhöhern – siehe Jarvis, Morozov, Carr, Schirrmacher und andere, die die Lücken der Empirie mit mal mehr, mal weniger intelligenten Mutmaßungen über die ganz große Frage füllen und in ihrer Versnobtheit alle gern das „Wechsel“ vor der Wirkung vergessen.

Aber wer ist denn hier überhaupt die Gesellschaft? Was zeichnet diese Gesellschaft aus, die das Internet nicht einfach nur gemacht hat, sondern auch ihre Bedürfnisse hineinprojiziert? Wen repräsentiert das Netz, wie spiegelt es soziale Strukturen – Armut, Bildung, politische Verhältnisse? Was wiederum bewirkt das Spiegelbild in der Gesellschaft? Wie viel Bildung braucht besagte Gesellschaft, um in der Breite gerechte Voraussetzungen für den Umgang mit dem Internet zu schaffen? Was empfindet diese Gesellschaft als privat, was als öffentlich? Es gibt ja Fragen, die empirisch zu untersuchen mehr als lohnte, damit mal eine glaubwürdige Grundlage geschaffen würde für längst geführte Debatten. Das Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft hat diese Chance – noch. Erste Schwerpunkte sind aber gesetzt: e-business, e-governance, Recht und Regulierung im Netz, Verfassungsrecht im Netz. Gesellschaft? Sucht man hier bisher vergeblich.

Deshalb: Die mediale Öffentlichkeit hat oft genug nach der Unabhängigkeit des Google-finanzierten Instituts gefragt, um diese Unabhängigkeit zu erzwingen. Jetzt gilt es, Forderungen zu stellen: Ergreift die Chance! Nutzt das Geld für die offenen Fragen, schließt die großen Lücken! Ums e-business können sich auch andere kümmern.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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