Der Aschenbecher als Abklingbecken

Diagnose Mensch War es Neugier? Der schmale Grat zwischen Experimentierbaukasten und Küchenreaktor

Das Streben nach dem Unbekannten gilt als genuin menschliches Verhalten, und wie vieles, was als ausnehmend menschlich betrachtet wird, erfährt auch diese so genannte Neugier grundsätzlich eine positive Bewertung.

Nun ist sie nicht bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt: Vor allem jene, die sich bereits im Kindesalter der sinnvollen Exploration natürlicher oder technischer Phänomene verweigern, weil sie mit ihren kleinen Freunden und Freundinnen lieber draußen oder heutzutage gar noch am Computer rumhängen, bereiten Eltern (und nicht zuletzt den politischen Forschungsbeauftragten) große Sorge. Zum Glück hat man das Problem schon in den zwanziger Jahren erkannt. Seither bekommen Kinder zu Weihnachten und zum Geburtstag Experimentierbaukästen geschenkt.

Experimentierbaukästen sind natürlich pädagogisch sinnvolle Lehrmittel, die bl0ß als Spielzeug getarnt werden und mit denen beiläufig so etwas wie kontrollierte Neugier geweckt werden soll. Dabei müssen viele Dinge beachtet werden: Erstens ist es wichtig, die geschlechterspezifischen Interessen zu berücksichtigen. Jungs interessieren sich bekanntlich viel mehr für Technik als das an Äußerlichkeiten orientierte Mädchen, und diesem zukunftsträchtigen Sozialisationsziel entsprechend muss es blaue Elektronik-, Chemie- und Physikbaukästen und rosa Parfümlabors und Schmuckwerkstätten geben. Zweitens gilt es, die Neugier wohldosiert freizusetzen, damit das Elternhaus nicht abbrennt. Die interessanteren Experimente werden deshalb im Begleitheftchen erklärt, mit dem dringenden Hinweis, das jetzt aber bitte nicht zu Hause nachzumachen. Was auch gar nicht geht, weil das entsprechende Versuchsmaterial nicht im Lieferumfang enthalten ist.

Trotzdem unterschätzen Eltern wie Baukastenhersteller bisweilen die Folgen ihrer guten Absicht. Wie ein US-Neurowissenschaftler nämlich 2006 herausgefunden haben will, ist Neugier wegen der Beteiligung von Opiat­rezeptoren im Gehirn eine Sucht. Eine, die – sofern sie unbefriedigt bleibt – zu Entzugserscheinungen führen kann.

Im Fall des Schweden Richard Handl – der jüngst weltweit die Neugier der Medien weckte, weil er auf dem Elektroherd seiner Küche versucht hatte, einen Atomreaktor zu bauen – sind daher verschiedene Kausalszenarien denkbar: Entweder hat Handl als Kind nicht mit Experimentierbaukästen spielen dürfen und kompensiert diesen Mangel nun in fortgeschrittenem Alter. Oder aber der 31-jährige Arbeitslose, der sich nach eigenen Angaben schon seit seinem 14. Lebensjahr für Atomphysik interessiert, konnte seine Neugier durch die einschlägigen Kästen nie stillen und wurde ein Junkie. Dafür spricht, dass das Sortiment bislang keine Spielkästen für Kernspaltung anbietet (aber für „Kristallzucht“ oder „Geheimschrift“).

Während versichert wird, dass Handl „weit davon entfernt“ gewesen sei, ­einen Reaktor zu bauen (Spiegel Online: „Zumindest das ist beruhigend“), liefert der auf richardsreactor.blogspot.com gezeigte Aufbau andere Hinweise: „Richards Reaktor“, bestehend aus ­einem schmutzigen Becherglas, in dem sich angeblich schwach radioaktive Substanzen aus einfachen Technik­bauteilen befinden, und einem vollen Aschenbecher, mutmaßlich als ­Abklingbecken gedacht, könnte auch die Neugier befriedigen, inwieweit sich Behörden und Öffentlichkeit aus der Reserve locken lassen. Man kann das ­einen doofen Scherz nennen (den ­andere schon viel lustiger hingekriegt haben, wie Handl mit einem Link zu Youtube selbst zugibt) oder aber einen tollen Baukasten für mediale Verdauung.

Handls letzter Blogeintrag jedenfalls lautet: „Now I’m famous world­wide ...“

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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