Kann denn Mullisierung helfen?

Diagnose: Mensch Der Mensch hat viele Sorgen, zum Beispiel Krebs. Zum Glück ist endlich das Genom des Nacktmulls entziffert - und soll ganz erstaunliche Perspektiven eröffnen

Das Leben ist ungerecht, und für diese Erkenntnis braucht es weder die Finanzindustrie noch Lucien Favres Kommentar zum Unentschieden zwischen Gladbach und Leverkusen am vergangenen Samstag. Es reicht schon die Betrachtung nackter Tatsachen, die so nackt sind, wie es etwa der Nacktmull ist. Gerade dieses scheinbar haarlose Nagetier spiegelt die Ungerechtigkeit des Lebens. Allerdings offenbart es auch deren Vermeintlichkeit.

Denn ob seines Äußeren oft belächelt und humorschwanger mit einem bezahnten Würstchen oder Penis verglichen, hat es der in Afrika beheimatete Nager immerhin zu einem viel beachteten Forschungsobjekt gebracht. Das äußerlich verunglückte Tier verfügt nämlich über eine sehr konkrete innere Qualität, die ihm seine Spötter zutiefst neiden: Als mutmaßlich einziges Säugetier ist Heterocephalus glaber gegen jede Form von Krebs immun.

Vergangene Woche haben Forscher nun das Genom des Nacktmulls veröffentlicht – und schon wachsen die Begehrlichkeiten, denn die Analyse des Basenpaar-Salats hat „einzigartige“ Strukturen ausgemacht, die als Ursache nicht bloß für die Tumorfestigkeit des unterirdisch lebenden Mulls verdächtig sind. Sie könnten auch darüber Auskunft geben, warum das Tier, ohne zu degenerieren, ein für Nagerverhältnisse biblisch hohes Alter von 30 Jahren erreicht (relativ entspricht es etwa der Lebensspanne des Menschen), warum es nie Wasser trinken muss und selbst unter Sauerstoffmangel prima klarkommt.

Klimafreundliche Rentner

Nach Ansicht der Forscher bietet der Blick ins Genom des scheinbar beneidenswerten Mulls eine „nie dagewesene Möglichkeit“, den Menschen seiner größten Sorgen zu entledigen: Neben Krebs sind dies das Altern, die Probleme des sozialen Miteinanders und die Perspektive auf ein Leben unter unwirtlichen Bedingungen, das im Zuge von Klimawandel und Umweltzerstörung unvermeidlich erscheint. Doch ganz abgesehen von der Frage, ob eine Mullisierung des humanen Erbguts wirklich gelingen kann: Muss der Mensch dem Mull denn etwas neiden?

Ein Blick in die aktuelle Ausgabe von Demografische Forschung aus erster Hand hilft: Dort heißt es, dass der Mensch mit zunehmendem Alter auch weniger CO2-Emissionen erzeuge. Der Wendepunkt liegt demnach um die 60 Jahre – ab dann wirkt jedes Individuum positiv auf die Treibhausgas-Bilanz, und das ist gar nicht so wenig. Denn tatsächlich wird der Mensch ja schon recht alt. Bis zum Jahr 2050 soll die Lebenserwartung in Deutschland um sechs weitere Jahre auf rund 86 Jahre zunehmen, und so ergibt sich die erfreuliche Aussicht, dass es um die Lebensspanne des Menschen auch mit Krebs gar nicht so übel bestellt ist und dass die Klimakatastrophe beeinflussbar sein könnte.

Wie beim Nacktmull gilt zudem: Je länger das Leben, desto weniger dringlich die Reproduktion. Die Geburtenrate ist daher klein – und zumindest für den Menschen steigt die Lebensqualität. Der muss auch nicht in lichtlosen Labyrinthen hausen, die eigenen Exkremente verspeisen, und er lebt auch nicht in einer biologisch zementierten Kastenordnung, die Naturwissenschaftlern als „sozial“ gilt, aber einer matriarchalischen Diktatur gleicht, mit einem einzigen Weibchen, das Nachkommen zeugen darf. Nein, der Mensch kann da zumindest prinzipiell wählen. Und auf die Spezies bezogen hat er trotzdem ganz ähnliche Vorteile errungen wie der Mull. Nur mit anderen Mitteln der Evolution.

Gene sind eben nicht alles, auch wenn die Forschung sie oft noch als Wundertüte verkauft. Andererseits: Um mit dem Verstand nachhaltige Fortschritte zu erzielen, lohnt auch der Blick ins Mull­genom. Nur neidisch muss der Mensch nicht sein.

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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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