Die Lebensnähe wird am Grill verteidigt

Corona-Sommer In wessen Gesellschaft wollen wir leben? In der Pandemie wurde der Bevölkerung mehr Verantwortung abgenommen als zugestanden. Für die Kultur ist das gefährlich

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Die Bratwurst als Impfanreiz
Die Bratwurst als Impfanreiz

Foto: Oli Scarff/AFP/Getty Images

Die Bratwurst hat das Zeug zum Nationalsymbol. Sie steht für kulinarische Genügsamkeit der Deutschen, wenn es ums Feiern geht. Gleichzeitig prägt sie den regionalen Stolz – nicht nur der Thüringer. In der Boulevard-Dramödie „Extrawurst“ von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob kommt ein neuer Grill auf politisch vermintes Gelände: Soll der Tennisclub einer deutschen Kleinstadt einen eigenen Rost für das einzige türkische Mitglied finanzieren? Das heiße Thema wäre dringend zu ergänzen um die Frage nach einem Gerät, auf dem Veganer ihren Würstchenersatz bräunen können.

Inzwischen steht die Bratwurst auch für Corona und da weniger für abgesagte Grillfeste als für ihre neue Bestimmung als „Impfanreiz“. „Solche pfiffigen Ideen wie eine Bratwurst bringen wieder mehr Leichtigkeit in die Impfkampagne, davon können wir noch mehr gebrauchen“, hat Ulrich Weigeldt Anfang August der „WirtschaftsWoche“ gesagt. Er ist Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Und tatsächlich war bislang Leichtigkeit nicht das Erste, was einem zum Stichwort Impfkampagne einfiel.

Die Freude am Pfeifen im Schilderwald

Olaf Scholz ist Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat und jubelte auf Twitter: „Wir müssen die Impfung jetzt an die Leute bringen und so viele Bürgerinnen und Bürger wie möglich davon überzeugen, sich impfen zu lassen. Lebensnahe Angebote gehören dazu.“

Ach ja, eine Strategie im Wahlkampf ist die Bratwurst natürlich auch – auch hier die kostenlose. Wobei zu bedenken gegeben sei, dass eine Bratwurst alles andere als gesund ist und – je nach Weltanschauung – viel zu wenig beziehungsweise viel zu viel Fleisch enthält. Zudem kommt sie selten allein, zieht stets das eine oder andere Bier mit und nach sich, von der Zigarette danach ganz zu schweigen. Werden im Rahmen der lebensnahen Impfkampagnen also Bürgerinnen und Bürger zu Alkoholmissbrauch verleitet und Schlimmerem?

Wer jetzt argumentiert, da sei schließlich jeder für sich selbst verantwortlich, sitzt in der Falle. Denn auf eigene Verantwortung deutet im Moment wenig hin. Von beiden Seiten. Aus Maßnahmen gegen die Pandemie sind Regeln geworden, an die sich die meisten halten, als habe es sie schon immer und als würde es sie für immer geben. In Leipzig haben die Menschen erst die Maskenpflicht und dann das Ende der Maskenpflicht ignoriert. Als der Mund-Nasen-Schutz im Museum der bildenden Künste nur Empfehlung war, hatte trotzdem jeder einen auf. Auch, damit das Museum geöffnet bleibt. Widerstand macht Verantwortung, aber auch Gewohnheit Platz. Derlei kommt in Sachsen gern zusammen, und sei es aus Freude am Pfeifen im Schilderwald.

„Das Ganze klingt ein wenig nach Wahl­kampf­getöse“

Andererseits mischen sich Amtsträger ein, ohne dass gesellschaftspolitische Weitsicht ihr Handeln lenkt. Derart von der Politik bedrängt zu werden, „das ist etwas, das wir bis jetzt hauptsächlich von den Arzneimittelherstellern kennen“, hat Manja Dannenberg dem Deutschlandfunk Kultur gesagt. Die Allgemeinärztin ist Vorstandsmitglied von „MEZIS – Mein Essen zahl’ ich selbst“, einer Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte. Es ging in dem Radio-Gespräch um Impfempfehlungen für Kinder. Sie beobachte „eine Art Stimmungsmache“, es werde suggeriert, dass Kinder häufiger von schweren Verläufen bedroht seien.

„Das Risiko liegt mehr bei den nicht impfwilligen Erwachsenen als bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren”, ist von Ulrich Weigeldt, der Chef vom Hausärzteverband, beim RedaktionsNetzwerk Deutschland zu lesen. Und: „Das Ganze klingt ein wenig nach Wahl­kampf­getöse.“ Das Ganze, das ist die Entscheidung der Gesundheitsminister und -ministerinnen von Bund und Ländern, das Impfangebot für Kinder und Jugendliche auszubauen. Das heißt: Erst seit es um Vakzine geht, empfindet die Politik Verantwortung für Kinder in der Pandemie.

Es gibt auch Menschen, die sich darüber freuen. Weil so mehr Klarheit herrscht, Grenzen gezogen werden. Denn leider ist das Leben kein Smartphone, das Fehler korrigiert und den Umgang mit Informationen erleichtert, wenn nicht sogar abnimmt. Nach der vierten Welle oder nach der fünften wird es ein Leben nach und dennoch mit Corona geben. Was für ein Danach soll das werden, in dem jeder gesagt bekommt, was zu tun und zu lassen ist? In wessen Gesellschaft wollen wir dann leben?

Bedürfnis nach Fremdoptimierung

Der Druck zur Selbstoptimierung hat einem Bedürfnis nach Fremdoptimierung Raum eingeräumt. Als würde man im Interesse des Klimaschutzes nicht nur auf Plastetrinkhalme verzichten, sondern um Wasserzuteilungen zum Duschen bitten und nach einem Dekret rufen, das Brennstoffe rationiert, weil man sie sonst unbedacht verbrauchen würde. Vater Staat und Mutter Merkel die Verantwortung zuzuschieben ist als Selbstaufgabe so unsouverän wie, sie ihnen zu überlassen.

Wer auch auf seine eigenen Organe hört, statt nur auf die zuständigen, übernimmt Verantwortung. Wer sich impfen lässt, auch. Wer das Impfen propagiert wie in dieser Woche der Landesverband Soziokultur Sachsen unter dem Motto „Das Gemeinwohl ist unser Antrieb. Impfen hilft“, spricht Verantwortung ab. Und das ausgerechnet aus Reihen der Kultur, die unter jenen Reglementierungen zu leiden hatte und hat, die einem Berufsverbot gleichkommen. Und die ignorieren, wie viel Verantwortung zu übernehmen Veranstalter, Künstlerinnen und ihr Publikum bereit und in der Lage sind. Sie haben sich schnell und kreativ darauf eingestellt, nebem dem freien ein sicheres Ambiente zu bieten.

„Unsere Impfkampagne muss von der gesamten Gesellschaft gelebt werden“, wird Sachsens Gesundheits-Staatssekretärin Dagmar Neukirch im Aufruf des Soziokultur-Dachverbands zitiert. Muss sie das? Von jener „gesamten Gesellschaft“, die der Politik über anderthalb Jahre egal war? Die einen Anspruch darauf hat, selbstbestimmt zu agieren. Ihr Verantwortung zuzutrauen und mehr in ihr zu sehen als eine Herde von Gesunden, ermöglicht Demokratie. Sie zu entmündigen, führt dazu, dass auch die Lebensnähe nur am Bratwurststand verteidigt wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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