Ein Gehender - Dürrenmatt auf den Fersen

100. Geburtstag Eine neue Biographie zeigt Friedrich Dürrenmatt vor allem als einen Denker, der zwischen Glauben, Politik und Philosophie unterwegs bleibt

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„Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, ihre Wirklichkeit im Kunstwerk zu entdecken“, hat Dürrenmatt gesagt
„Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, ihre Wirklichkeit im Kunstwerk zu entdecken“, hat Dürrenmatt gesagt

Foto: Keystone/Getty Images

Als 1989 Friedrich Dürrenmatts letzter Roman „Durcheinandertal“ erschien, fiel er im „Literarischen Quartett“ durch. „Abscheulich“ nannte Marcel Reich-Ranicki das Buch, und vielleicht schwang da auch Enttäuschung mit, denn Dürrenmatt war ein anderer geworden. Sein Leben lang. Vor 100 Jahren, am 5. Januar 1921 wurde er geboren.

Sein stetiger Wandel lag begründet in einem Kampf um Stoffe, um die Sprache dafür, die Form. Was der Autor 1980 über den Komponisten Ludwig van Beethoven sagte, traf wohl auf ihn selbst zu: „Beethoven hatte sich entwickelt, aber nicht sein Publikum, nicht seine Zeit.“ Diesen Zusammenhang stellt Ulrich Weber in seiner umfangreichen Dürrenmatt-Biographie her, die im Herbst erschienen ist, rechtzeitig zum 30. Todestag: Dürrenmatt starb am 14. Dezember 1990.

Hinterlassen hat er Klassiker wie das Hörspiel „Die Panne“, den Kriminalroman „Das Versprechen“ (Drehbuchvorlage für den Film „Es geschah am hellichten Tag“), die Romane „Der Richter und sein Henker“ und „Justiz“, die Theaterstücke „Die Physiker“ und „Der Besuch der alten Dame“ – uraufgeführt mit Therese Giehse in der Hauptrolle und immer wieder verfilmt, mit Elisabeth Flickenschildt oder Ingrid Bergman, Maria Schell oder Christiane Hörbiger als Claire Zachanassian, die als Milliardärin in die Stadt ihrer Jugend zurückkehrt, um Rache zu nehmen, indem sie der Stadtgesellschaft ein unmoralisches Angebot macht.

Das Stück hat nicht nur 1956 Dürrenmatts Ruhm begründet, es lässt sich ohne Mühe in und auf die Gegenwart übertragen. „Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, ihre Wirklichkeit im Kunstwerk zu entdecken“, hat Dürrenmatt gesagt, und „die Wirklichkeit der Gesellschaft ist die politische Struktur, in der sie lebt“. Sentenzen wie diese sind in dem Büchlein „Gedankenschlosser“ zu finden, das der Diogenes Verlag, bei dem seit Mitte der 80er alle Rechte am Werk liegen, zum Geburtstag reicht (144 Seiten, 12 Euro). Untertitelt sind die Anmerkungen mit „Über Gott und die Welt“, was auch über dem Gesamtwerk (37 Bände) stehen könnte. Wäre es denn so einfach.

Für den Schriftsteller war die Welt ein Steinbruch, aus dem er „die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Es ging ihm nicht um ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, „ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, daß die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt ergeben“. Das Malen, Porträtieren, er war ja auch bildender Künstler, sei ein Erleben – „mehr einem Erinnern vergleichbar“ als einem Abbilden. Er schreibe, erklärte Dürrenmatt, zum einen, um seine Familie zu ernähren, zum anderen, um die Leute zum Lachen und, was ebenso wichtig ist: zum Ärgern zu bringen. „Nichts kommt die Menschheit teurer zu stehen als eine billige Freiheit. Oft ist es Pflicht, boshaft zu sein.“

Es funktioniert. Nicht zuletzt mit „Durcheinandertal“, einem Roman wie ein Rausch des Boshaften im Grotesken. Ein Kurhaus nach dem Vorbild des Gandhotel Waldhaus Vulpera: Sommers quartieren sich die Reichen ein, um Beschränkung zu genießen, sich „von der Betrübnis des Reichtums durch die Heiterkeit der Armut“ trösten zu lassen. „Ein wahrer Fimmel, arm zu leben, ergriff die Millionäre und Millionärswitwen, Generaldirektoren machten die Betten, Privatbankiers staubsaugten, Großindustrielle deckten im Speisesaal die Tische, Spitzenmanager schälten Kartoffeln ...“ Darüber werden allerdings die Dorfbewohner arbeitslos.

Im Rest des Jahres überwintern die „Spezialkiller und Starkidnapper“, die Besten ihres Fachs und eines Verbrecher-Syndikats, unerkannt im Tal und lassen sich neue Gesichter schneidern. „Es waren immer Mitglieder aus dem Verkehr zu ziehen.“ Marihuana-Joe, der Moralist, und Big-Jimmy, der Ästhet, sind zwei von ihnen. Nach der Vergewaltigung des Dorfmädchens Elsi soll dessen Hund erschossen werden, weil er dem Nachtportier des Kurhauses den Hintern zerfleischt habe. Es treten auf: die Rechtsanwälte Raphael, Raphael und Raphael, „nur unterschieden durch ein Doppel-, Tripel- und Quadrupelkinn“. Ein Dorflehrer, der Zettel mit „Denkstützen“ fallen lässt: „Die Mathematik ist eine Spiegelschrift der Melancholie“. Eine Provinzmacht, die mit Inkompetenz bis zur Dämlichkeit auffällt. Ein Gott ohne Bart und Moses Melker, der sein Gesicht wahrt, indem er unbeirrbar Armut predigt, während er durch Todesfälle reicht erbt. Es ist natürlich eine Farce, ein lustvoller Untergang - am Ende im Feuer.

„Ich glaube, der Humor ist der letzte Versuch der Objektivität, den man der Welt gegenüber hat“, zitiert Biograph Ulrich Weber den Schriftsteller, dessen erste Brotarbeit politische Satire war für das Cabaret Cornichon. Das befand sich, wie Weber schreibt, nach Auflösung des Feindbildes Nazideutschland Ende der 40er in einer schwierigen Phase der Neuorientierung. Dürrenmatt schrieb ein paar Sketche, geißelte „die zynische Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs“. Doch er wurde nicht verstanden oder das Verstandene nicht gewollt. Die Zusammenarbeit endete rasch.

Eine Form des Unverstandenseins aber, die mit enttäuschten Erwartungen zu tun hat, begleitete ihn weiter. Kritik, schrieb er, „muss immanent begründet sein. Sie muß die Qualitäten und die Fehler eines Stückes aufzeigen, indem sie das Stück vermittelt der Spielregeln durchdenkt, die der Autor setzte und nicht der Kritiker“. Ihn als einen Schluderer hinzustellen, wie es ein Rezensent der Erzählung „Die Panne“ tat, empfand er als „hundskommune Gemeinheit“ und schrieb das dem Kritiker.

Mit 45 war Dürrenmatt weltberühmt, eine nationale Instanz, ein international gewichtiger Autor. Als er 1986 endlich den Georg-Büchner-Preis erhielt, sprach er in seiner Rede über Büchner, Kant, auch Marx. „Seit Kant gibt es zwei Kulturen, eine wissenschaftliche und eine literarische. Führt die wissenschaftliche Kultur ins Nicht-Wissen, indem dieses anwächst, je mehr man weiß, rennt die literarische, insofern sie sich noch für Philosophie hält, wie eine Ratte hilflos im Labyrinth der Sprache herum und läßt sich wie die Religionen zur Begründung der Macht jener verwenden, die an der Macht sind oder an die Macht wollen, insofern sie Literatur ist, ist sie vollends wirkungslos geworden, es sei denn, man messe der Mode Bedeutung zu. Man trägt Kultur, entweder von der Stange oder maßgeschneidert. Die vollständige Überflüssigkeit der Literatur ist ihre einzige Berechtigung. Es gibt keine erhabenere ...“

Dürrenmatt hasste Routine. Im Schreiben, Glauben und im Denken. Er war „einer jener Pfarrerssöhne, bei denen sich die Auseinandersetzung mit dem Elternhaus zu einer Auseinandersetzung mit den Fundamenten der westlichen Zivilisation auswächst“. Wenn er von einem Rückzug auf sich selbst sprach, so Ulrich Weber, dann bedeutet dies keineswegs einen Rückzug vom Politischen aufs Private. „Dürrenmatt setzte sich weiterhin und mit immer neuen Denkansätzen und Perspektiven mit brisanten politisch-sozialen, aber auch ökologischen Fragen auseinander.“

Ulrich Weber ist Kurator des Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv SLA. Er hat Dürrenmatt nicht persönlich gekannt, was er hier zusammenträgt, fügt er – auch mit den privaten Geschichten – zum Bild einer Persönlichkeit, die immer neu entdecket werden kann. Das Gandhotel Waldhaus Vulpera ist 1989 abgebrannt. Dürrenmatt zu begegnen, verlangt, sich zu bewegen.

Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt - Eine Biographie. Diogenes Verlag; 752 Seiten, 28 Euro

Friedrich Dürrenmatt: Gedankenschlosser. Über Gott und die Welt. Diogenes Verlag; 144 Seiten, 12 Euro

Friedrich Dürrenmatt: Durcheinandertal. Roman. Diogenes Verlag; 144 Seiten, 10 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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