Goethes Farbenlehre — eine Antwort auf Krippendorff

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Was greift Goethe bei Newtons Farbenlehre an?

Goethe widerstrebt die erfahrungsgestützte Theoriebildung der sich herausbildenden modernen Naturwissenschaft. Er sieht in diesem erkenntnistheoretischen Ansatz nur Chaos und polemisiert:

Daß bei einem Vortrag natürlicher Dinge der Lehrer die Wahl habe, entweder von den Erfahrungen zu den Grundsätzen, oder von den Grundsätzen zu den Erfahrungen seinen Weg zu nehmen, versteht sich von selbst; daß er sich beider Methoden wechselsweise bediene, ist wohl auch vergönnt, ja manchmal notwendig. Daß aber Newton eine solche gemischte Art des Vortrags zu seinem Zweck advokatenmäßig mißbraucht, indem er das, was erst eingeführt, abgeleitet, erklärt, bewiesen werden sollte, schon als bekannt annimmt, und sodann aus der großen Masse der Phänomene nur diejenigen heraussucht, welche scheinbar und notdürftig zu dem einmal Ausgesprochenen passen, dies liegt uns ob, anschaulich zu machen, und zugleich darzutun, wie er diese Versuche, ohne Ordnung, nach Belieben anstellt, sie keineswegs rein vorträgt …

Goethe unterstellt Newton letztlich bösartige Fälschung. Goethes Aversion geht so weit, dass er sich sogar über das englische Wort optics lustig macht, das ein etwas naiveres Aussehen haben mag als das lateinische optice und das deutsche Optik.

Was stellt Goethe dem naturwissenschaftlichen Ansatz entgegen?

Der von ihm verachteten Theoriebildung:

Theoreme, die solche Dinge aussprechen, die niemand schauen kann …

setzt Goethe seine Naturphilosophie entgegen:

Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.

Hypotheses non fingo

Ekkehart Krippendorff spricht im genannten Artikel von einer Wegscheide, der Möglichkeit einer anderen wissenschaftlichen Moderne als jener, die letztlich zu Hiroshima und Atommüll geführt habe. Goethe kritisiere die "Apparate-Physik" als Vergewaltigung der Natur. Krippendorff:

Die gewaltsame Unterwerfung der Natur — in der Wissenschaft durch Apparaturen aller Art — führte in letzter Konsequenz zu ihrer Zerstörung und damit zur Zerstörung der Grundlage der menschlichen Existenz

Das sind harte Vorwürfe, man erhält den Eindruck, dass Goethes Naturphilosophie das Abendland vor dem 20. Jahrhundert gerettet hätte.

In seiner Ablehnung von Theoriegebäuden, in seinem Beharren auf Beschreibung der Phänomene, trifft sich Goethe interessanterweise mit etlichen Naturforschern, einschließlich Newton. Wenn Forscher die Grenze ihrer Erkenntnisfähigkeit erreichen oder wenn sie an ideologische Barrieren stoßen, kurz: wenn sie in einer Krise stecken, kommt der Rückzug mit den Worten die Physik beschreibt nur, sie erklärt nicht. Eine kleine Liste:

  • Das heliozentrische System darf um 1600 problemlos zur Beschreibung der Phänomene der Planetenbahnen herangezogen werden, es darf aber aus ideologischen Gründen nicht als Ausdruck einer hinter den Phänomenen stehenden Realität betrachtet werden
  • Als es Newton trotz vieler Mühen nicht gelingt, einen (zeitgemäß mechanischen) Grund für die Anziehung zwischen Körper zu benennen, zieht er sich auf die Position zurück, dass seine Wissenschaft (tatsächlich sehr präzise) die Phänomene beschreibt, dass es aber nicht ihre Aufgabe sein kann, Gründe, also eine Theorie, anzugeben: hypotheses non fingo.
  • Mach betrachtete nur beobachtbare Phänomene als relevant, die unsichtbaren Atome aber als reine theoretische Spekulation, als okkulten Unsinn. Berühmt ist seine höhnische Frage: "Habens' schon eins gesehen?"
  • Einsteins Theorien werden nicht als Beschreibung einer nur indirekt (und meist mittels komplizierterer Apparate) wahrnehmbaren Realität gesehen sondern als überkomplizierte, übermathematisierte Spekulation. Lenard und Gehrke ziehen sich auf die Position zurück, dass Physik die von Einstein erklärten Phänomene nur zu beschreiben, nicht aber zu erklären habe. Lenard 1933 im Völkischen Beobachter: dass der Relativitätsjude, dessen mathematisch zusammengestoppelte Theorie […] nun schon allmählich in Stücke zerfällt, …

(Im Gegensatz zu den genannten Personen steckt Goethe allerdings in seinem naturwissenschaftlichen Streben und Bemühen bereits in einer ideologisch verursachten erkenntnistheoretischen Sackgasse, bevor er überhaupt auch nur eine einzige relevante Erklärung für irgend etwas zustande bekommt. Er kommt über die Phänomene also nie hinaus.)

Woher kommt die Goethe'sche Naturphilosophie?

Es scheint, es gab politisch-ökonomische Ursachen, die das Phänomen Goethe als Naturforscher überhaupt erst möglich machten. 1833, also zufälligerweise im Jahr nach Goethes Tod, schrieb Georg-Wilhelm Mucke (die Beispiele stammen nicht aus dem Bereich der Optik):

Bloß in Deutschland wurde dieser einfache Gang einer ruhigen Forschung einige Zeit hindurch unterbrochen, indem man […] die Wissenschaft leichter und besser durch Spekulationen zu fördern hoffte. Die Anhänger dieser Schule nannten sich Naturphilosophen und den Inbegriff der zu untersuchenden Gegenstände Naturphilosophie, […] Die Unmöglichkeit einer solchen Aufgabe […] zeigt sich auf das bestimmteste in dem später nicht zu verkennenden Erfolge, indem die Naturlehre […] in Deutschland zu einem mystischen Spiele mit unbekannten Kräften, unter denen Dehnkraft und Ziehkraft eine vorzügliche Rolle spielten, zu hochtrabend klingenden, aber nichts sagenden Phrasen aus unbestimmten und unklaren Worten, als Polarität, Differenzirung, Potenzirung u.s.w., und endlich zum eigentlichen Aberglauben an Wunderkräfte der Wünschelruthe, der Schwefelkiespendel, des Wasserfühlens u.s.w. überging.

Diese Passage erinnert mich an diversen Wasserenergetisierungsvorrichtungen der Esoteriker verschiedenster Provenienz, auch die Homöopathie liegt hier nicht weit entfernt. Es gibt Relikte goethescher Naturphilosophie in unserer Gegenwart! Weiter mit Mucke, Hervorhebung von mir:

Künftige Forscher der Literärgeschichte werden es kaum begreiflich finden, daß eine so ernsthafte und allgemein so gründlich forschende Nation sich auf diese Weise verirren konnte, allein die Ursachen lassen sich füglich nachweisen. Die Ausländer, namentlich die Engländer und Franzosen, mit denen die Deutschen stets wetteiferten, hatten schon früher mit weit größeren und ausgedehnteren Hülfsmitteln gearbeitet, als den auf die Kräfte kleinerer Staaten beschränkten deutschen Gelehrten zu Gebote standen.[…] In Deutschland fehlten alle diese Impulse und die ihnen angemessenen Hülfsmittel, seine Gelehrten wandten sich daher zur Specultion in der Voraussetzung, hierdurch es den Nachbarn gleich zu thun oder sie wohl gar noch zu übertreffen.

Goethes Farbenlehre ist sterile Ideologie

Entgegen der Behauptungen vieler Goethianer wurde und wird ein Großteil der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung nicht angetrieben vom Bedürfnis nach Verfügbar-Machung der Natur sondern vom — ja — Faustischen Erkenntnisstreben. Die Schlüsselfragen der optics waren zu Goethes Zeit: Was ist Licht? Was ist das Wesen von Licht? Besteht Licht aus Korpuskeln oder ist es reine Energie in Form einer Welle? Wenn es eine Welle ist, was "wellt" denn da?

Hier fühlte sich Newton auf der Höhe seiner Zeit, hier stellte er sehr wohl hypotheses auf, die sich teilweise später als unzutreffend (mit den sorgfältig beobachteten Phänomenen nicht übereinstimmend) erwiesen und die gleichwohl unsere Erkenntnis der Natur immens voranbrachten. Deshalb zitieren wir heute noch Newton.

Goethes Naturphilosophie erlaubt keine Untersuchung dieser Fragen, sie führt ideengeschichtlich zu nichts, sie ist steril. In Goethes alternativer Moderne hätten wir weder Atome noch die Grundlagen der modernen Kosmologie entdeckt. Man denke nur an das zur Erklärung des Phänomens "Frauenhofer'sche Spektrallinien" aufzuwendende quantenmechanische Theoriegebäude: Theoreme, die solche Dinge aussprechen, die wirklich ganz und gar niemand schauen kann. Wie arm wäre heute unser Weltbild! Wie kuschelig klein wäre unser Universum! Deswegen haben wir noch nie Goethe als Naturforscher zitiert.

Wahrscheinlich hat Krippendorff recht: In Goethes alternativen Moderne hätten wir vielleicht kein Hiroshima und keinen Atommüll und eine Durchschnitts-Lebenserwartung von 45.

Und dass Militärs und andere Kriminelle die Technik ihrer Zeit nutzen, um ihre Verbrechen zu begehen, war in jeder Epoche wahr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus.Fueller

… wird noch nachgereicht

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