Leben in Hysterie - möglich, aber sinnlos!

Corona Viele Menschen fürchten um ihr Leben. Andere um den Verlust ihrer Lebensgrundlage oder um die Bürgerrechte. Doch diese Ängste gegeneinander abzuwägen, gilt als pietätlos.

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US-Politiker will Senioren in Corona-Krise opfern“, titelt die Bild. Und das „Neue Deutschland“ steht dem in nichts nach: „Der Republikaner Dan Patrick will, dass Alte in der Coronakrise für ihr Enkel sterben“. - Symptomatisch für unsere Medien: man zitiert nicht, was jemand gesagt hat, sondern was er damit gesagt hat. - Was Patrick wirklich sagte, war dies: „Wir werden in unserer Gesellschaft einen totalen Zusammenbruch, eine Rezession, eine Depression erleben, wenn dies noch einige Monate andauert. Meine Botschaft ist: Lasst uns an die Arbeit gehen, lasst uns wieder leben. Lasst uns klug sein, und wir, die wir über 70 Jahre alt sind, wir passen selbst auf uns auf. Aber opfert nicht das Land.“ (stern.de) Dies ist nichts als eine rationale Betrachtung und hat nichts mit Inhumanität zu tun. Denn wie viele Menschenleben ein Wirtschaftskollaps kosten würde (in dessen Folge auch die Gesundheitssysteme zusammenbrechen) ist völlig unabsehbar. Doch rationale Gedanken sind im Zeitalter der Emotionalität unerwünscht.

Selten haben sich Irrationalität und Verlogenheit der „Zivilisation“ so offenbart wie in diesen Tagen. Wir müssen alles tun, um Leben zu retten! – Wann hätten „wir“ das je getan?

  • Wird etwa alles unternommen, um zu verhindern, dass jährlich 10.000 Menschen in Deutschland Suizid begehen?
  • Wird der Straßenverkehr so reguliert, dass dort nicht jedes Jahr 3000 Menschen ihr Leben verlieren?
  • Wird wirklich alles unternommen, um das Leben derer zu schützen, die den Folgen des Klimawandels zum Opfer fallen werden?
  • Sind „wir“ bereit, nur ein Prozent unseres Einkommens zu opfern, damit nicht alle drei Sekunden ein Mensch an Hunger stirbt? (Das wären 35 Milliarden EURO jährlich, und die würden ausreichen, um den Hunger weltweit zu beseitigen.)
  • Hier in der Community fragt kürzlich die Medizinstudentin Ranya A.: „Es gibt genug ältere Menschen, die […] vereinsamen, verarmen und verwahrlost aufgefunden werden. Seien wir ehrlich – wann haben wir der älteren Generation Respekt gezollt und Wertschätzung gezeigt?

Diese Fragereihe ließe sich endlos fortsetzen. Was dabei besonders auffällt, sind die feinen Unterschiede: bei den infolge Hunger, Migration und Naturkatastrophen Gestorbenen handelt es sich um Fremde. Nun aber ist der Homo europaeus betroffen, eine auf der Liste der schützenswerten Arten ganz oben stehende Spezies!

Nein, wir haben nie alles unternommen, um Leben zu retten. Deshalb ist es scheinheilig, Meinungen anzuprangern, die sich der gegenwärtigen Hysterie entgegen stellen. Die Tatsache, dass die Frontal21-Redaktion sich für die Information rechtfertigen muss, „dass es Wissenschaftler, Ärzte und Experten des deutschen Gesundheitssystems gibt, die eine abweichende Einschätzung haben“, beschreibt die Situation wohl am besten.

Da ist es schon als mutig zu bezeichnen, was die Süddeutsche Zeitung wagt. Heribert Prantl fragt besorgt: „Wann wird aus der Demokratie eine Virolokratie?“, und René Schlott meint kurz darauf: „Die offene Gesellschaft wird erwürgt, um sie zu retten. […] Was, wenn wir eines Morgens in einer Gesundheitsdiktatur aufwachen?“ Und er ahnt: „Die Reaktionen auf diesen Artikel werden zeigen, wie es um die Meinungsfreiheit bestellt ist und inwiefern vom Primat der epidemologischen Kurve abweichende Einstellungen noch toleriert werden.“ Wie recht er mit seiner Ahnung hatte, zeigt die Reaktion des Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, das im vorauseilenden Gehorsam beteuert: „Bei dem Beitrag in der SZ handelt es sich um eine Meinungsäußerung unseres Kollegen René Schlott und nicht um ein offizielles Statement des ZZF Potsdam.“ Umso bemerkenswerter, als alle anderen Presseverweise des Instituts nicht mit diesem Hinweis versehen sind.

Wohlgemerkt: Keiner von uns weiß, wer Recht hat; was wir aber verlangen dürfen, ist die sachliche Abwägung der zu treffenden Maßnahmen. Das erfordert profunde Analysen, nicht nur aus virologischer Sicht. Virologen zeichnen ein Bild nach ihrem Verständnis. Das mag richtig sein. Aber berücksichtigen sie auch die Todesopfer, die es infolge der von ihnen empfohlenen Maßnahmen geben wird? Nein. Das fällt nicht in ihr Ressort.

Jeder bleibt bei seinen Leisten, und die Politiker, die alles zusammenführen könnten, sind uns in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Zugegeben, wir haben hervorragende Technokraten, die die Krise meisterhaft verwalten werden, aber keiner traut sich abzuwägen, welche der Krisenfolgen vertretbar und verkraftbar sind? Stattdessen versuchen es alle mit business as usual:

  • Der Arbeitsminister verkündet eine Rekord-Rentenerhöhung, und niemand wagt die Frage zu stellen, ob man sie angesichts der aktuellen Krise nicht aussetzen sollte.
  • Der DGB fordert: „Soziale Verantwortung zeigen – Kurzarbeitergeld aufstocken“. (Wir haben Krise, aber niemand soll Opfer bringen.) Woher das Geld kommen soll, hat die Gewerkschaft noch nie interessiert.
  • Der Finanzminister lässt sich feiern für die Bereitstellung gigantischer Milliarden-Beträge, als hätte er sie herbeigezaubert oder seiner Privatschatulle entnommen.
  • Sportfunktionäre tun so, als ginge es ihnen um Sport.
  • Die NachDenkSeiten (obwohl sie noch immer zu den lesenswerten Quellen zählen) pflegen ihr tradiertes Feindbild: die Mainstreammedien als willfährige Propagandisten der Macht und vertrauen sich dem einzigen Wahrheitsfinder an – dem russischen Staatssender RT.

Alle miteinander sind sie beflissen, in ihren Schwarz-Weiß-Modellen jegliche Grauschattierung nur ja zu vermeiden.

Und es blühen die Phantasien der Sozialromantiker, die glauben, ihre süßen Visionen in naher Zukunft erfüllt zu sehen. Besonders peinlich die des Zukunftsforschers Matthias Horx, der schon für den Herbst 2020 eine neue Welt prophezeit: „In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.“ (Warum Horx noch immer zu den Gurus zählt, werden sich nur diejenigen fragen, die den ersten Grundsatz der Wahrsager-Branche nicht kennen: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern!“)

Und nun geh ich zur Demo. Mit meiner Frau – mehr ist ja nicht erlaubt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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