Nieder mit der Anarchie! Es lebe Anarchismus!

Anarchismus Anarchisten bewegen sich heute selten über Glaubensbekenntnisse hinaus. Dass die großartige Idee sich so ins Vage verlor, liegt auch an der fehlenden Begriffsklarheit.

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Eigentlich sollte es heißen: es lebe der Anarchismus. Aber die Überschrift darf nur 45 Zeichen lang sein. - Soviel zum kleinsten Problem dieses Beitrags.

Der Blog von Regine Beyß „Jenseits von Staat und Kapital“ stieß auf lebhafte Resonanz und zeigte, dass ein reges Interesse an anarchistischem Gedankengut herrscht. Das überaus interessante Kommentargeschehen machte aber auch deutlich, dass keine konsistente Theorie existiert, auf deren Grundlage man eine sachliche Diskussion führen könnte. Das fängt an bei den Begrifflichkeiten. Die Kommentatoren diskutieren manchmal lange und mühevoll miteinander, um am Ende festzustellen, dass man von unterschiedlichen Definitionen ausging (so z.B. die Debatte zwischen Ringo Wunderlich und iDog über das Matriarchat). Dass der Anarchismus in der öffentlichen Wahrnehmung irgendwo angesiedelt ist zwischen Paradiesvogeltum und Extremismus, liegt nicht zuletzt an der unklaren Begriffs-, Inhalts- und Zielbestimmung. Dies wiederum bedingt die fehlende Legitimationsbasis, die dem Anarchismus von Gesellschaftstheoretikern regelmäßig bescheinigt wird. Manch bekennender Anarchist wird einwenden, dass er solch eine Legitimation nicht benötigt. Das mag so sein. Dennoch bleibt man auch als Anarchist ein soziales Wesen, und für die meisten wird es schon wichtig sein, dass sie sich und ihren Lebensentwurf plausibel erklären können, wenn sie auf interessierte Mitmenschen treffen. Im Übrigen ist Anarchismus auch Bewegung, und jede Bewegung rekrutiert sich aus Menschen, die auf der Suche sind. Die dürfen wir nicht vergessen, die Suchenden, die sich vielleicht für anarchistisches Gedankengut interessieren; sie werden sich wieder abwenden, wenn sie keine schlüssigen Antworten bekommen. Die Anarchismusbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts hätte niemals ihre erstaunliche Wirkmacht entfalten können, hätte sie sich nicht auf die Marxsche Theorie und die Schriften von Proudhon, Kropotkin, Bakunin, Landauer – trotz deren methodischer Mängel – stützen können.

Was wir brauchen, ist eine systematische Theorie des Anarchismus. Hierfür sollen an dieser Stelle einige Denkansätze zur Diskussion gestellt werden. Ich beziehe mich dabei bewusst nicht auf anarchistische Literatur, weil nach meiner Einschätzung kein schlüssiges Ideengebäude existiert. Wir müssen ganz neu anfangen.

Der Übersichtlichkeit halber wurde der Beitrag geteilt. Im ersten Teil sollen im wesentlichen Fragen aufgeworfen und die damit verbundenen Probleme skizziert werden. Der zweite Teil versucht Kategorien zu finden, innerhalb derer eine systematische Darstellung anarchistischer Positionen möglich ist.

Macht und Herrschaft

Anarchie bedeutet „ohne Herrschaft“. Und da geht es schon los mit den Unstimmigkeiten. In vielen anarchistischen Statements wird nicht explizit Herrschaft abgelehnt, sondern Macht. Herrschaft und Macht sind aber verschiedene Kategorien. Gegen Macht vorzugehen, das kann man tun, dafür kann es verschiedene Beweggründe geben, aber das ist kein spezifisches Anliegen des Anarchismus. Ein Mensch oder eine Gruppe können sich so viel Macht aneignen, wie sie wollen; das braucht mich a priori nicht zu berühren. Erst wenn ich mich dieser Macht unterwerfen muss oder mich ihr freiwillig unterwerfe, liegt ein Herrschaftsverhältnis vor.

Macht an sich ist nichts Negatives, auch nicht in den Augen eines Anarchisten. Ich kann ja durchaus einer Person oder Institution freiwillig Macht übertragen, mit deren Hilfe sie für meine Interessen eintritt. Der kritische Punkt wird überschritten, wenn die übertragene Macht benutzt wird, um ein dauerhaftes Herrschaftsverhältnis zu begründen. Dauerhaft bedeutet in diesem Falle nicht nur, dass eine Person oder Partei dauerhaft herrscht, sondern dass sich Ideen oder Strukturen so verfestigen, dass das Herrschaftsverhältnis repressiv wird, auch in den Fällen, wo es von einer Mehrheit getragen wird. (Immer wieder lesenswert in diesem Zusammenhang: „Repressive Toleranz“ von Herbert Marcuse) Oder wenn die Macht benutzt wird, um sich Einflussbereiche zu erschließen, die im ursprünglichen Mandat nicht vorgesehen waren. Was Regine Beyß anspricht: „dass sich der Staat viele Aufgaben angeeignet hat, die ursprünglich gar nicht in staatlichem Kontext entstanden sind. Straßen, Schulen, Krankenhäuser, Sozialversicherungen, Rentenversorgung … all das ist nicht spezifisch staatlich.“ Und plötzlich ist aus der Machtübertragung, die ich oder meine Vorfahren aus freien Stücken eingegangen sind, ein überbordendes Herrschaftssystem geworden, das immer weiter in meine Lebensbereiche vordringt.

Was nun die anarchistische Idee ausmacht, das ist die Ablehnung eben dieser Form von Herrschaft: die sich anmaßt, mein Leben in Bereichen zu reglementieren, die keiner Reglementierung bedürfen. - Aber so einfach ist es auch wieder nicht, denn das ist nur eine abstrakte Ablehnung. Wir brauchen aber Konkretheit, um den Anarchismus aus dem Land der Utopie zu holen. Und Konkretheit hieße in diesem Fall, die Frage zu stellen, wer entscheidet darüber, was staatlich zu reglementieren ist und was nicht. Dies ist eine der Fragen, denen wir uns im 2. Teil zuwenden wollen.

zwischen den Beiden steh ich…

…heißt es in einem Song von Mark Forster, der die Schwierigkeit beschreibt, sich zwischen Bauch und Kopf, zwischen Gefühl und Vernunft zu entscheiden. Vor solch ein Dilemma dürfte sich jeder Anarchist – sofern er nicht voll auf Ignoranz setzt – regelmäßig gestellt sehen. Das offenbart sich im Kommentargeschehen zu o.g. Blog, besonders in dem großartigen Argumentetausch zwischen Lethe, iDog und Heinz. Allerdings scheint es so, dass der Konflikt nicht zwischen Bauch und Kopf, sondern zwischen Bauch und Herz ausgetragen wird. Das Herz sagt ja, der Bauch sagt nein. Lethe setzt auf Bauchgefühl, auf Erfahrung: „Vertrauen auf das Wohlverhalten aller Menschen über ewige Zeiten hinweg dürfte für Anarchismus der sicherste und schnellste Weg in den Abgrund sein, da es nur wieder darauf hinaus liefe, dass die agilsten, intelligentesten und machtbewusstesten Menschen sich zu Gruppen zusammenschließen, die unterstützt durch die neue Freiheit schneller als das Licht neue Herrschaft etablieren würden.“ iDog antwortet mehr aus dem Herzen: „Anarchie geht eben nur mit Anarchisten. Die von denen du schreibst, die sich dann zusammenrotten zur "Herrschaft der Stärksten" sind keine, soviel steht fest.“ Was Herz und Bauch nicht beantworten können, das, was im Kopf ausgetragen werden müsste, braucht eine Theorie auf empirischer Grundlage. Doch die fehlt. Frühere Theorien stützten sich auf kommunistische Lehrgebäude. Diese Quelle hilft uns heute nicht viel weiter, denn auch die Kommunismustheorie bedarf eines grundsätzlichen Upgrades, bei dem es übrigens viele Überschneidungen zu unserer Thematik gäbe.

Lethe hat schon recht: [@iDog] „Wenn du mir nicht konkrete und realistisch durchführbare umfassende Maßnahmen nennen kannst, die vom derzeitigen Gesamtzustand in einen neuen Gesamtzustand von Herrschaftsfreiheit führen, ohne gleichzeitig ins Chaos zu führen, bleibe ich bei dieser Ansicht. In der Theorie geht vieles, bei dem der Praktiker entnervt abwinkt.“

Einziger Einwand meinerseits: wir haben nicht mal eine Theorie.

Anarchie und Anarchismus

Der Grundfehler – mit verheerenden Folgen für die Akzeptanz von Anarchismus – ist die Definition von Anarchie als Endziel anarchistischer Bestrebungen. Keine einzige anarchistische Theorie konnte bislang darstellen, wie eine herrschaftslose Gesellschaft überleben sollte. Nur in verklärten Gedanken kann sich die Anarchie als etwas Funktionierendes, Beglückendes heranbilden. Wie soll man, gerade heute, unter dem Eindruck der weltweiten Folgen nicht funktionierender Staatsgewalt, den Menschen hierzulande glaubhaft machen, dass Herrschaftslosigkeit ein erstrebenswertes Ziel sei? Auch der Somali, dessen Frau von Piraten verschleppt und dessen Kinder von Al Shabaab als Kämpfer zwangsrekrutiert wurden, wird die Anarchie in seinem Lande nicht als chic empfinden.

Wir müssen also zunächst unterscheiden: Anarchie ist ein Zustand. Anarchismus ist Idee, Lebensweise, Bewegung. Die Anarchie ist folglich auch keine Zielvorstellung, sondern der Anarchismus ist Weg und Ziel zugleich.

Als Gesellschaftsordnung lassen sich weder Kommunismus noch Anarchismus etablieren. Ihrem eigenen Verständnis nach ginge das ja nur, wenn alle Gesellschaftsglieder von der Idee überzeugt wären. Ideen sind aber ständig im Fluss, somit wird es immer Kontroversen geben. Im Übrigen ist es undenkbar, dass selbst in einer wohlständigen, hochaufgeklärten Gesellschaft nur altruistisch denkende und agierende Menschen leben. „Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des »Seinlassens«.“, sagt Robert Spaemann. Leider kann es nicht gelingen, dass alle Menschen zu jeder Zeit freiwillig diesen Akt des Seinlassens vollziehen. Es werden also immer ökonomische und gesetzliche Regulative erforderlich sein. Wenn man über deren Legitimation nachdenkt, stellt sich die Frage, von welchen Formen menschlicher Sozialisation (Einzelwesen, Familie, Kommune, Genossenschaft, Verein, Land …) wir überhaupt reden. Ob der Staat in diesen eine Rolle spielt. Ob der Staat an ein Territorium gebunden sein muss – eine Frage, die sich in einer global vernetzten Welt mit Sicherheit irgendwann stellen wird.
Wenn über Herrschaft gesprochen wird, muss zudem eine weitere Begrifflichkeit geklärt werden: Zwang. Dieser wird angewendet, um Herrschaft gegen Widerstände durchzusetzen. Gegen Zwang wendet sich Anarchismus im Besonderen. Doch auch hier müssen die Formen beachtet werden. Zwang kann moralischer, gesetzlicher oder repressiver Art sein, und jede dieser Formen kann in die andere übergehen. Faschismus ging von Bündelung aus (was das Wort im Ursprung ja auch bedeutet), die sich zunächst freiwillig vollzog. Aus der Freiwilligkeit erwuchs moralische Verpflichtung, mit ihrer Ausweitung schließlich moralischer Zwang. Der wurde irgendwann in Gesetze gefasst, und letztendlich, losgelöst vom Gesetz, repressiv gehandhabt. Anarchismus braucht also eine klare Abgrenzung von legitimem und nichtlegitimem Zwang. Dieser Herausforderung darf man sich nicht entziehen mit dem Hinweis, jede Form von Zwang sei illegitim.

Damit wären wir beim zentralen Thema: Keiner der großen Begriffe, die sich auf Menschenwürde beziehen, wurde in der Geschichte, und speziell seit der Aufklärung, einer so intensiven Betrachtung unterzogen, wie Freiheit. Und nichts wurde so erbarmungslos relativiert. Kaum ein Philosoph, der sich nicht herausgefordert sah, seine eigenen Anschauungen zu entwickeln, was stets zu weiterer Relativierung führte. Im Kern wehrt sich der Anarchismus gegen jegliche Relativierung des Freiheitsbegriffs. Deshalb wird es Kernaufgabe einer systematischen Theorie sein müssen, dafür die Grenzen zu ziehen. Dies ist einer der Schwerpunkte des zweiten Teils; an dieser Stelle nur ein Beispiel, welches das ganze Relativierungsdilemma verdeutlichen mag.

Die freie Wahl der Herren schafft die Herren oder die Sklaven nicht ab.

Dieses Marcuse-Zitat würde wohl jeder Anarchist unterschreiben. Aber gerade der Sklaven-Begriff birgt eine neue Problematik: die Diskrepanz zwischen positiver und negativer Freiheit. Anarchismus in seiner klassischen Ausprägung ist negativistisch; er beschreibt primär, was er ablehnt. Der Kampf gegen Sklaverei ist folglich Ur-Anarchismus. Auch der Sklave kennt zunächst nur ein Ziel: die Befreiung aus der Herrschaft. Überall dort, wo Sklaverei beendet wurde, zeigte sich, dass die neue Herausforderung für die jetzt Freien darin bestand, mit der gewonnenen Freiheit etwas anzufangen. Im alten Rom hatten sie oft nur die Möglichkeit, weiter auf den Besitztümern ihres nun zum Feudalherrn gewordenen ehemaligen Besitzers weiterzuarbeiten. Für die befreiten Sklaven in den USA ging es noch schlechter aus. Sie trafen auf ein kapitalistisches System, in dem sie ihre Arbeitskraft zu miserablen Bedingungen verkaufen mussten, um zu überleben. Gewiss, die Abschaffung der Sklaverei war eine Frage der Menschenwürde, doch zu einem menschwürdigen Leben führte sie nicht automatisch. Ein solches bedarf der Beantwortung der großen Frage: Wozu kann und will ich frei sein?

Natürlich konnte diese Frage unter den Bedingungen der Sklaverei nicht primär stehen. Man musste sich erst von dieser Herrschaft befreien, bevor man über weiteres nachdenken konnte. Hier und heute ist die Situation aber eine andere; sie ermöglicht es, den positiven Freiheitsbegriff zum Ausgangspunkt des Anarchismus zu machen. Kurz gesagt: nicht das Feindbild, nicht die Suche nach zu bekämpfenden Herrschaftsstrukturen sollte am Anfang stehen, sondern die Überlegung, was ich gern tun würde, wenn ich die Freiheit dazu hätte. Je konkreter man sich diese Frage stellt, umso exakter lässt sich dann auch beantworten, wovon man sich befreien muss. Die Antwort kann ernüchternd sein, weil einem kaum etwas einfällt. Wenn man sich aber nicht aus der Abstraktion des Gedankens vom Beherrschtsein löst, wird es nicht gelingen, den Anarchismus aus der Welt der Utopie in die gesellschaftliche Realität zu holen. Dann trifft nämlich zu, was weiland Goethe schon erkannte: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“

Erst wenn ich weiß, was zu tun ich die Freiheit haben will, kann ich erkennen, welche Herrschaftsverhältnisse dem im Weg stehen, wovon ich frei sein muss. Diesen Weg, den Anarchismus von seinem negativistischen Grundansatz zu befreien, halte ich für einen der wichtigsten Ansätze einer neuen Theorie.

Gemeinschaft und Gesellschaft

Für eine systematische Anarchismustheorie ist es zudem unerlässlich, jene Gebiete menschlicher Sozialisation zu definieren, in denen Herrschaftsfreiheit möglich ist. Ich möchte hierzu eine Überlegung zur Debatte stellen, anhand derer sich die meisten der bisher zurückgestellten Fragen beantworten oder zumindest auf eine verhandelbare Ebene bringen ließen.

Um zu erkennen, in welchen Verhältnissen menschlichen Zusammenlebens Anarchismus überhaupt wirksam werden kann, soll eine Unterscheidung herangezogen werden, die auf Ferdinand Tönnies (1887) zurückgeht: die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Dieses komplexe Thema wird im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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