Der Machismo ist in Lateinamerika so verbreitet wie eine schwache Justiz
Report Es gibt zwar den politischen Willen, in den Ländern des Subkontinents, Morde an Frauen, zu denen es allein wegen ihres Geschlechts kommt, härter zu verfolgen als bisher, aber es bleibt bei Ansätzen
Hinter dieser Absperrung in Guatemala City wurden Körperteile einer ermordeten Frau gefunden
Foto: Rodrigo Abd / picture alliance / Associated Press
Ada Morales schüttelt genervt den Kopf. „Die Angst, dass sie mir nach meiner Tochter auch noch mein Enkelkind nehmen, die hat mich zweifeln lassen – an den Richtern, an der Regierung, nahezu an allem“, sagt die Guatemaltekin mit leiser Stimme. Erschöpft sitzt sie zu Hause im Wohnzimmer, wo ein kleiner Schrein aufgebaut ist – zur Erinnerung an ihre Tochter Luz María López, an ihr Verschwinden, das spektakuläre Auffinden der verstümmelten Leiche.
Der Prozess gegen ihren Mörder, den Ehemann und Vater der gemeinsamen Tochter, hat in Guatemala Schlagzeilen gemacht. Nicht nur, weil die 25-Jährige als Kriminalistin für das Ministerio Público, vergleichbar mit der Generalstaatsanwaltschaft, arbeitete, auch weil Ada Morales ni
Morales nicht locker ließ. „Ich bin an die Öffentlichkeit gegangen, habe Interviews gegeben, an die Kollegen in der Generalstaatsanwaltschaft appelliert, wo sie beliebt, ihre Expertise in Forensik und Ballistik geschätzt war.“ Die Tochter war an den Falschen geraten. Sie hatte sich beim Kauf eines Motorscooters in den Verkäufer verliebt. Schnell wurde geheiratet, und die mittlerweile vierjährige Tochter musste miterleben, wie ihre Mutter vom eigenen Vater, Jorge Rafael Zea Mejía, getötet wurde.Der Prozess endete zwar mit einem Schuldspruch für den Täter, der im Oktober 2022 zu einer fünfzigjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, aber sicher fühlte sich Ada Morales mit ihrer Enkeltochter nicht. „Ich hatte erwartet, dass die Anwälte von Jorge in Revision gehen, denn seine Eltern haben Geld und Einfluss.“Decreto 22-2008Genauso kam es, doch ging die Revision zugunsten der Opferfamilie aus, der das Sorgerecht für die traumatisierte Enkeltochter zugesprochen wurde. Einer der seltenen Fälle in Guatemala, dass nicht nur überhaupt ein Urteil in einem Femizid-Prozess ergeht, sondern es in der Berufung bestätigt wird, so die Anwältin und Frauenrechtlerin Paula Barrios. Die schnelle Aufklärung des Mordes an Luz María López sei atypisch gewesen. „Dafür gibt es drei Gründe: sie arbeitete für die Staatsanwaltschaft, ihre Mutter scheute sich nicht, unbequeme Fragen an die Behörden zu stellen, die Medien griffen den Fall auf. Deshalb endete dieser Femizid nicht in Straflosigkeit wie so viele andere Fälle.“2021 wurden laut offiziellen Zahlen 143 Femizide in Guatemala verübt. 39 Verfahren endeten laut Staatsanwaltschaft mit einem Urteil, wie das auch aus einer Studie des Ökonomischen Forschungsinstituts (CIEN) hervorgeht. Demnach kam es nur bei 27 von 100 Femiziden zu einem Urteil, ein Jahr zuvor war die Quote mit 22 zu 100 noch schlechter. Drei bis fünf Jahre Wartezeit bis Prozessbeginn seien nicht die Ausnahme, sondern die Regel, so Edgar Gómez, Leiter der Abteilung für Femizide der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft. Ernüchternde Realitäten angesichts der Tatsache, dass Guatemala zu den Ländern gehört, die relativ früh ein Gesetz gegen Femizide, das Decreto 22-2008, verabschiedet haben. Im Mai 2008 wurde es im Diario oficial, dem amtlichen Mitteilungsblatt, publiziert, ist seitdem rechtskräftig und stellt nicht nur Morde an Frauen wegen ihres Geschlechtes, auch physische, sexuelle oder ökonomische Gewalt gegen Frauen unter hohe Strafen.Doch trotz Haftstrafen von bis zu 50 Jahren sorgt das Decreto 22-2008 bisher nicht für den erhofften Effekt. „Die Zahl der Femizide ist nicht rückläufig, sie steigt – während der Pandemie und danach“, so Corinne Dedik vom CIEN. Die Schweizerin ist die Verfasserin der 2022 erschienen Studie zu Femiziden in Guatemala und weist darauf hin, dass viele Fälle ungelöst und folgerichtig straffrei blieben. Generell brauche es mehr Schulung, mehr Prävention und mehr Expertise bei den Gerichten, zudem mehr Frauenhäuser. Es gebe strukturelle Probleme, so Dedik. Das gilt für fast alle Staaten Mittelamerikas, wo laut der UN-Frauenorganisation die Zahl der Femizide besonders hoch ist, auch für Länder wie Bolivien und Peru.Mit Benzin übergossenIm bolivianischen La Paz lebt Helen Alvárez, die seit Jahren dafür kämpft, dass der Mord an ihrer Tochter geahndet wird. Der 19. August 2015 hat das Leben der Journalistin und Frauenrechtlerin auf den Kopf gestellt. Es war der Tag, an dem Andrea Aramayo am Morgen von ihrem Ex-Freund William Kushner überfahren wurde. Das sei vorsätzlich geschehen, ist sich die Mutter sicher. Die Staatsanwaltschaft erhob schließlich Anklage wegen eines Femizids, sodass Kushner am 24. September 2020 zu 30 Jahren Haft verurteilt wurde. Ohne die Hartnäckigkeit von Álvarez wäre es kaum dazu gekommen. Die Ermittlungsbehörden hatten den Tod der Tochter anfangs als Verkehrsunfall eingestuft, weshalb Álvarez im August 2015 selbst zu recherchieren begann. Sie lieferte Indizien für die Gewalttat, wies den Ermittlungsbeamten Versäumnisse nach wie die nicht erfolgte Sicherung der Aufzeichnungen von Überwachungskameras am Tatort in der Calle Pedro Salazar im Ausgehviertel Sopocachi von La Paz.Sie bezahlte einen Gutachter und einen unabhängigen Gerichtsmediziner, der Andrea Aramayo obduzierte. Das kostete Álvarez ihre Ersparnisse. Sie nahm es hin, weil der Mörder ihrer Tochter sonst kaum bestraft worden wäre. „Ich habe selbst Druckerpapier für die Staatsanwaltschaft gekauft, damit sie ihren Bericht fristgerecht weiterleiten konnte“, erzählt Alvárez schulterzuckend. Auf bis zu 25.000 US-Dollar taxiert sie die Kosten für Ermittlungen, Anwälte und Materialien wie Obduktionshandschuhe. „Das kann sich in Bolivien kaum jemand leisten, deshalb bleiben viele Femizide ungesühnt“, meint die Journalistin, die beim feministischen Radio Deseo arbeitet und zur Frauenorganisation Mujeres Creando zählt. Diese unterhält ein Kulturzentrum inklusive einer Notherberge für Frauen im Zentrum von La Paz.Der Machismo ist in Lateinamerika so verbreitet wie eine schwache Justiz. Das schlägt sich nicht zuletzt in den Reports der UN-Frauenorganisation nieder, die Bolivien noch vor Brasilien als eines der gefährlichsten Länder des Subkontinents einstuft: „Jeden dritten Tag wird hier ein Frau durch einen Mann ermordet – nur weil sie eine Frau ist“, sagt Tania Sánchez von der Coordinadora de la Mujer, der Dachorganisation bolivianischer Frauenrechtler. Das habe auch etwas damit zu tun, dass sich die Rolle der Frau verändert, so Sánchez. „Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und Politik immer präsenter. Das sorgt für Gegenwehr der Männer – sexistische Witze, Ablehnung, auch Gewalt.“Schon 2013 wurde in Bolivien das „Gesetz 348“ gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen beschlossen, das überführten Tätern Haftstrafen von bis zu 30 Jahren androhte. Doch ging von dieser Novellierung nur in Maßen eine abschreckende Wirkung aus, wie die Statistik belegt. Danach gab es von Januar bis Mai bereits 33 Femizide. Das vorangegangene Jahr endete mit 94 registrierten Morden an Frauen. Die Regierung von Präsident Luis Arce will nun das „Gesetz 348“ reformieren, was überfällig sei, meint Helen Alvárez, die 2021 miterleben musste, wie der Mörder ihrer Tochter aus dem Gefängnis in einen Hausarrest wechseln durfte. „Ein Skandal“, gegen den sie sich juristisch wehrte, sodass William Kushner derzeit erneut hinter Gittern sitzt.Fortbildung für das spezialisierte Personal in der Justiz stehe genauso an wie für Polizisten, fordern Frauenorganisationen wie Mujeres Creando schon lange. Doch die Etats fehlen. Hinzu kommt die Korruption in der Rechtssprechung, gegen die öffentlicher Protest bisher wenig ausrichten konnte. Das „Gesetz 348“ habe viele Erwartungen geweckt, werde denen aber nicht gerecht, kritisiert die Anwältin Paola Barriga, die sich auf Gewalttaten gegen Frauen spezialisiert hat. „Es fehlt an allem, die auf Delikte gegen Frauen spezialisierten Staatsanwälte schieben teils 900 bis 1.000 Fälle vor sich her, spezialisierte Richter gibt es nicht, bei Prävention und Polizeiausbildung klafft ein tiefes Finanzloch.“Das ist im benachbarten Peru nicht anders. Andrea Pardo vom Frauenverband Manuela Ramos spricht von 62 Femiziden, die es seit Januar gegeben habe. Das seien jetzt schon mehr als die 55 im gesamten Jahr 2022. „In Peru ist die Polizei diskreditiert, weil sie zu spät aktiv wird. Sie ermittelt erst, wenn Druck aufgebaut wird.“ Vielfach sei Straflosigkeit die Folge. Andrea Pardo verweist auf den Fall der 18-jährigen Katherine Gómez. Sie wurde am 18. März in der Altstadt von Lima auf offener Straße nur wenige hundert Meter von einem Polizeikommissariat entfernt von ihrem Ex-Freund mit Benzin übergossen und angezündet. Der Täter, der 19-jährige Venezolaner Sergio Tarache Parra, konnte danach ungehindert vom Tatort fliehen, die junge Frau erlag sieben Tage später ihren Verletzungen. Erst dann rang sich die peruanische Justiz zu einem Haftbefehl gegen den flüchtigen Täter durch, der sich bereits ins benachbarte Kolumbien abgesetzt hatte.Andrea Parlo glaubt, dass es allein den Eltern der Ermordeten zuzuschreiben wäre, wenn dieses Verbrechen – anders als so viele andere – trotzdem gesühnt werden könnte. Sie sind nach Kolumbien gereist, um die dortigen Behörden zur Auslieferung des Täters aufzufordern. Über das offizielle Gesuch müssen die Gerichte entscheiden – das kann mehr als sechs Monate dauern, doch hat der Fall mittlerweile so viel Aufmerksamkeit erregt, dass er zu denen gehören könnte, die länderübergreifend aufgeklärt werden.