Anna Karenina oder Arme Leute, Gorki Theater

Theater-Premierenkritik Oliver Frljić verknüpft zwei russische Romane von Tolstoi und Dostojewski, die vom Scheitern romantischer Liebe erzählen.

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In den ersten knapp zwei Stunden am Gorki Theater reibt man sich die Augen: Kurz wird eine Szene aus „Arme Leute“ angespielt. Bald switcht der Abend zu „Anna Karenina“: In wallenden Gewändern und sehr getragen werden wesentliche Kapitel der Romanhandlung betont realistisch abgehandelt. Nur selten ist ein Augenzwinkern zu spüren. Soll diese müde Roman-Nacherzählung wirklich von dem kroatischen Regisseur stammen, der im Marstall des Münchner Residenztheaters mit aufwühlenden, mutigen, gegenwartssatten Abenden wie „Balkan macht frei“ und „Mauser“ begeisterte?

Lang und länger zieht sich die erste Hälfte, hie und da wird noch mal ein Schnipsel Dostojewski oder ein Tolstoi-Fremdtext eingebaut. Am ehesten kann noch Lea Draeger als leidende Titelheldin punkten. Gorki-Jungstar Jonas Dassler, der sonst fast jeden Abend im Alleingang rocken kann, wird in eine Knallchargen-Nebenrolle abgeschoben und ist die größte Enttäuschung der faden ersten Hälfte. Dementsprechend heruntergezogen waren viele Mundwinkel bei den Pausengesprächen.

In der letzten Stunde holt Frljić zum Plottwist aus, allerdings nicht mit dem Florett, sondern mit dem marxistisch-leninistisch geschulten Holzhammer. Das Bild des Zaren, das während der ersten Hälfte an der Rückwand prangte, wurde gegen Lenins Konterfei ausgetauscht. Der Adel findet sich plötzlich gefesselt und in Unterhosen in Sibirien wieder. Anastasia Gubareva als Warwara und Stimme des Proletariats hat das Heft des Handelns in die Hand genommen und ruft zur feministischen Revolution auf. Statt Anna Kareninas Suizid gibt es ein Gewitter aus Pistolen-Salven.

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