"Schlafe, mein Prinzchen": Berliner Ensemble

Theater-Rezension Ein Klassik-Pop-Liederabend zu Kindesmissbrauch - Kann das funktionieren?

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Eigentlich sollte Franz Wittenbrink am Berliner Ensemble einen Liederabend zur Villa Aurora inszenieren: Lion Feuchtwanger hat dieses Anwesen in den Hügeln bei Los Angeles gekauft, als er vor den Nazis ins Exil fliehen musste. Das im spanischen Stil erbaute Schlösschen entwickelte sich in den 1940er Jahren zu einem Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Thomas Mann, Charlie Chaplin oder Bertolt Brecht gehörten zu den prominenten Gästen. Heute dient die Villa Aurora als Künstlerresidenz inklusive Stipendiatenprogramm, unterstützt vom Auswärtigen Amt und der Staatsministerin für Kultur.

Wer Wittenbrink-Abende kennt, die an vielen großen Häusern zu erleben waren, kann sich sehr gut ausmalen, wie ein Villa Aurora-Abend aussehen dürfte: ein unterhaltsamer Reigen aus Liedern, bunt gemixt aus verschiedenen Genres, ohne Scheu, zwischen E und U hin und her zu springen. Das würde bestimmt wieder gute Unterhaltung im typischen Wittenbrink-Stil, von dessen schwebender Leichtigkeit die Süddeutsche Zeitung einmal schwärmte.

Aber diesen Villa Aurora-Abend können wir uns bisher leider nur in unserer Vorstellung ausmalen. Wittenbrink entschied, dass er sich stattdessen viel lieber einem ganz anderen Thema widmen möchte, das ihn seit langer Zeit beschäftigt.

Anfang 2010 begannen die Nachrichtensendungen fast täglich mit schrecklichen Enthüllungen, an welcher eben noch hochangesehen Bildungs-Institution offensichtlich systematisch sexueller Missbrauch an Kindern betrieben und vertuscht wurde. Regisseur Franz Wittenbrink war damals in Sandra Maischbergers ARD-Talkrunde zu Gast und berichtete über seine Zeit bei den Regensburger Domspatzen in den 60er Jahren. Auch im Programmheft zu Schlaf, mein Prinzchen schreibt er über seine Zeit bei diesem Chor mit Weltruf und ehrwürdiger Tradition. Er erwähnt harte Strafen für Banalitäten wie einen fallengelassenen Bleistift und Schläge auf den nackten Hintern. Vor “direktem sexuellem Missbrauch” sei er verschont geblieben, vermutlich auch weil sein Onkel damals bayerischer Ministerpräsident war.

Der Dramaturg Steffen Sünkel berichtete bei der Einführung, dass die erste Reaktion an Claus Peymanns Berliner Ensemble war: Ein Liederabend zum sexuellen Missbrauch – kann das gut gehen? Wie passen die fröhlichen Songs und Wittenbrinks oft ironischer Stil, die das Publikum an so vielen Abenden mit einem Lächeln nach Hause gehen ließen, zu diesem bedrückenden, zu lange tabuisierten Thema? Das kann doch kaum funktionieren, oder?

Dementsprechend behutsam tastet sich der Abend auf dem schwierigen Gelände voran. Mit großem Ernst und sehr stringent bearbeitet Wittenbrink sein Thema. Zu lachen gibt es diesmal kaum etwas und das wäre bei diesem Stoff ja auch deplatziert.

Die erste Szene führt ins Internat der Regensburger Domspatzen, der Bühnenhintergrund erinnert an Sakralbauten, vorne singen die Schüler (gespielt von jungen Schauspielerinnen und zwei männlichen Kollegen) ausgelassen den Stones-Klassiker Satisfaction. Einer der Präfekten betritt das Zimmer und schlagartig ist es mit der guten Stimmung vorbei. Sehr genau beobachtete kurze Szenen schildern den erbarmungslosen Drill und die körperlichen Übergriffe, subtil beginnend, dann immer dreister. An diesem Abend werden sie nur angedeutet. Das Grauen, das die Opfer erlebt haben, wird dennoch beklemmend spürbar.

Kurze Dialoge wechseln sich mit Gesang ab. Im ersten Teil des knapp zweistündigen Abends dominieren geistliche Lieder und Klassik von Mozart und Bach. Danach ändert sich der Schauplatz, die Enge des katholischen Internats weicht den Bäumen um die Odenwaldschule, auf Klassik folgen die Pophits der späten 60er und frühen 70er. Aber die Missbrauchs-Muster bleiben dieselben: der Schulleiter begrüßt die Spitzen der Gesellschaft, die ihre Sprößlinge in seine Obhut gegeben haben. Familie von Weizsäcker, Familie Porsche, mehr Establishment geht kaum. Wie schon im ersten Teil taucht auch hier wieder ein besorgter Vater auf: seine kritischen Nachfragen, ob es stimme, was sein Sohn berichtet hat, werden mit einer Mischung aus Drohungen und Überheblichkeit abgewiegelt.

Der Missbrauch geht weiter, wer nicht mitmacht, wird im libertären Milieu, das von der Überwindung autoritärer Strukturen träumte und in dem sich auch Wittenbrink in den 70ern wiederfand, als “verklemmt” und kleinbürgerlich beschimpft. Philosophische Texte von Platon aus der griechischen Antike werden in beiden Fällen (sowohl bei den Domspatzen als auch in der Odenwaldschule) dazu missbraucht, sexuelle Übergriffe als Akt eines ganzheitlichen Erziehungsprozesses zu rechtfertigen. Der Abend endet mit dem Auftritt eines ehemaligen Lehrers im Rollstuhl, der sich keiner Schuld bewusst ist und darauf beharrt, dass er doch nur das Beste für seine Schützlinge gewollt habe. Auch diese Haltung kennen wir leider aus der Realität nur zu gut.

Franz Wittenbrink schließt seinen Text im Programmheft mit den Worten: “Kindesmissbrauch ist nicht zu verhindern, gesetzlich verboten ist er ohnehin. Aber man kann eine Gesellschaft dafür sensibilisieren. Dazu möge dieser Theaterabend beitragen.”

Und das funktioniert an diesem Abend durchaus: Schlaf, mein Prinzchen liefert keine vorgefertigen Antworten, sondern fordert dazu auf, hinzuschauen, was an den angesehenen Institutionen geschehen ist.

Schlafe, mein Prinzchen. – Ein musikalischer Abend von Franz Wittenbrink. – Uraufführung am Berliner Ensemble. 20. Juni 2015. – Mit: Annemarie Brüntjen (Hans Aigner / Joe), Raphael Dwinger (Philipp Odenthal / Phil), Johanna Griebel (Wolfgang Hornung / Wolfi), Nadine Kiesewalter (Andreas Trautwein / Andi), Andreas Lechner (Chorleiter Obermayer / Franz Grünberger), Lennart Lemster (Ferdinand Sebius / Ferdi), Dorothee Neff (Walther Rheinberger / Walther), Corinna Pohlmann (Siggi Benatzky / Sina), Maike Schmidt (Manfred Müller / Manni), Veit Schubert (Domkapellmeister Radinger / Gernot Bofinger), Laura Tratnik (Sepp Unterholzner / Josy), Thomas Wittmann (Präfekt Fortner / Freddy Bäumer). – Band: Mathias Weibrich (Flügel), Ariane Spiegel (Cello), Jarek Jeziorowski (Tenorsaxophon, Klarinette, Querflöte), Tornike Ugrekhelidze (Violine), Martin Fehr (Tenor). – Regie: Franz Wittenbrink, Musikalische Leitung: Franz Wittenbrink, Mathias Weibrich, Bühne: Alfred Peter, Kostüme: Wicke Naujoks, Dramaturgie: Anika Bárdos, Steffen Sünkel, Licht: Steffen Heinke. – Ca. 1 h 45 Minuten, ohne Pause

Nächste Aufführungen am Berliner Ensemble: 29. August und 6. September 2015

Der Text wurde zuerst am 4. Juli 2015 hier veröffentlicht: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25426-wittenbrinks-schlaf-mein-prinzchen-ein-klassik-pop-liederabend-zu-kindesmissbrauch-kann-das-funktionieren.html

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