Fotografie „In the Legion“ von Jeff Wall in Basel: Im Vergänglichen das Ewige freilegen
Ausstellung Jeff Walls Aufnahmen wirken wie Schnappschüsse. Manchmal dauert es Jahre, bis er neue veröffentlicht. Nun gibt es die erste Ausstellung seit Langem in der Fondation Beyeler in Basel. Unser Autor hat „In the Legion“ genauer betrachtet
Wo ist die Leichtigkeit hin? Das schwebende Gefühl in der Bar, in der Zeit verlangsamt, der Magnetismus der Erde scheinbar aufgelöst wird? Hat die Pandemie all das genommen – die befremdliche Erkenntnis, dass ein Teil unserer Nachbarn und Bekannten gegen wissenschaftliche Erkenntnisse ernsthaft mit Bauchgefühlen opponierte, sich tiefer in Meinungen eingrub? Ist es der Klimawandel, dessen düsteres Zukunftsbild lustige Stunden verschattet? Jedenfalls hat er der Kritik an der warenproduzierenden Gesellschaft etwas beigemengt, das den Preis einer Ausbeutung aller Ressourcen überdeutlich koloriert: Die demokratische Gesellschaft, die sich eine gewisse Heiterkeit erhielt (weil sie ja die Zukunft offen gestalten würde, den Kurs der Dinge verändern kön
6;nnte), wird beinahe deterministisch unterspült – wir laufen auf eine Katastrophe zu, wenn wir nicht alles umstellen.Die Royal Canadian Legion ist eine Wohlfahrtsorganisation für Angehörige von Streitkräften und Bundespolizei. Kulturräume, Pubs im ganzen Land und im Commonwealth. Die Zweigstelle in Vancouver, Branch 142, bewohnt seit 50 Jahren dieselben Räume, die 1979er Einrichtung bezeugt das: Holz, Kunststoffe, dunklere Farben, das Kunstleder ist vielleicht etwas speckig, der dunkelrote Teppich dunstet verschüttete Getränke, den Duft von Reinigungsflüssigkeit aus. Aber es geht vergnüglich zu, Spiele, Bier, später kann man tanzen. Zur sorgfältig gerahmten Reihe der Vorsitzenden klettern Gelächter, heitere Gespräche hinauf.Jeff Wall sagt, der Salto kam wie eine SeifenblaseJeff Wall, 1946 in Vancouver geboren, hat den plötzlichen Rückwärtssalto zwar ins Zentrum seines Bildes gesetzt, aber nicht besonders ausgeleuchtet – die Drehung, der mutige Irrwitz findet im rückwärtigen Teil statt. Hinter einem Flachbildschirm und zur Tanzfläche hin betont Licht die Ränder der Aufnahme: Das leitet unseren Blick zum zurückgelehnten Herrn im orangen Shirt, zur Dame vorne links, graue Haare, praktische Frisur, ins Gespräch vertieft. Über die jüngere Frau neben ihr, die uns den Rücken zudreht, finden wir einen Weg durch den Mittelgang zum Spektakel: Vielleicht hat sie sich eben ein Getränk geholt, jetzt stutzt sie, blickt auf den Sprung.Die Leichtigkeit, das gleitende Gefühl in der Bildmitte verweist auf die Anstrengung, die damit verbunden ist, wenigstens für einen Moment der Erdanziehung zu trotzen. Vielleicht ist der noch jugendliche Mann auf den Stuhl gestiegen, ein Pärchen links schaut interessiert, eine Frau ist aufgestanden, in ihrer Geste mischen sich Überraschung, Empörung: Sie hat ihn vor Unsinn gewarnt. Eine dritte Frau mit Steckfrisur verfolgt den Übermut im Sitzen, drei Frauen blicken also auf einen Mann, sein Körper hängt vor ihnen auf dem Scheitelpunkt einer Drehung, die viele im Raum gar nicht mitbekommen.Er habe keine Erklärung dafür, woher das Thema rührt, hat Jeff Wall gerade im Katalog seiner ersten Einzelausstellung seit einer halben Ewigkeit festgestellt: In the Legion hängt nun in der Baseler Fondation Beyeler und ist eines von wenigen Bildern, die Wall in der letzten Dekade produziert hat. Der Rückwärtssalto sei einfach zu ihm gekommen, er habe keinen Ursprungsort, sei aus dem Nichts in ihm aufgestiegen, wie eine Seifenblase aus der Erinnerung.„Weightlifter“ (2015) und „A woman with a necklace“ (2021): Schwerkraft überwindete Jeff Wall schon früher gerneFür die Schau hat Jeff Wall eine Art Führung durch die Räume geschrieben, einen fließenden Kommentar, den der Katalog zugänglich macht. Bilder und Methode nennt er Cinematografien – sie heben ihn seit den 1970er Jahren in eine Sonderstellung: Die Aufnahmen lösen sich von der Behauptung, ein Wirklichkeitsfragment zu sein, inszenieren konzeptionell durchdachte Situationen, wirken wie Schnappschüsse. Wall, schreibt Martin Schwander dazu, habe es sich zum Prinzip gemacht, entgegengesetzte Vorstellungen in einem Bildausschnitt zu fassen – solche nämlich, die „im Modischen und Flüchtigen das Poetische und im Vergänglichen das Ewige“ freilegen. Dafür halten sie eine Balance zwischen sorgfältiger Komposition eines Gemäldes (öfter mit kunstgeschichtlichen Bezügen aufgeladen) und einem aktuellen, sogar politisch lesbaren Gegenwartsbezug. Die rein für das Standbild hergestellten Momente bergen eine fließende Natur – ein Vorher und das Danach fügen wir als Betrachter bei.Der Rückwärtssalto spielt mit einem Thema, das wir aus anderen Aufnahmen kennen: Die Schwerkraft muss ein Gewichtheber (Weightlifter, 2015) mit viel Mühe überwinden, eine Frau auf dem Sofa hält die Halskette (A woman with a necklace, 2021) spielerisch in der Luft. Aber diesmal – die Warnende hat das geahnt – geht es wohl nicht gut, der Sprung ist zu flach angesetzt: Der Scheitelpunkt der Drehung verrät, dass der Mann ihn kaum schaffen wird. Das Bohei nach dem Sturz können wir uns ausmalen, der Schreck kann Gläser vom Tisch fegen, Mobiliar zertrümmern, hoffentlich bleibt es bei Prellungen. Die Kühnheit adoleszenter Männer greift ins Gebiet von Irrsinn und macht dem Reinigungspersonal Arbeit. Die Leichtigkeit, die Jeff Wall inszeniert, ist eine Illusion. War sie vielleicht stets.
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