Ausstellung Das Museum der Bildenden Künste in Leipzig zeigt Werke von Evelyn Richter und ihren Weggefährtinnen. Vor allem aber zeigen sie, was es hieß, als freie Fotografin in der DDR zu leben
Foto: Evelyn Richter Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der Bildenden Künste
Im September 1961 unterzeichnet Evelyn Richter einen Vertrag mit dem VEB Edition Leipzig. Für das Buch Die Frau in der DDR ist ein Bildteil mit 100 Seiten geplant. Ein großes Projekt für die freie Fotografin. Doch das Buch wird nie erscheinen. „Diese Fotos waren ja nicht auf Linie“, erklärte Evelyn Richter später. „Es sollte ja alles schön sein und optimistisch. Das war bei mir ja nicht der Fall.“ Im Museum der bildenden Künste (MdbK) in Leipzig wird nun deutlich, wie intensiv sie an dem Band gearbeitet hatte – auch Entwürfe für das Layout gab es schon. Einzelne Aufnahmen wurden in anderen Kontexten veröffentlicht. Das Bild einer lachenden Auszubildenden oder das einer Arbeiterin An der Linotype nahm Richter in
nahm Richter in ihr künstlerisches Werk auf – 1978 bekam letzteres auf der Messe photokina in Köln einen Ehrenpreis.Heute gilt Richter als eine der wichtigsten deutschen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. 2020 erhielt sie den Bernd-und-Hilla-Becher-Preis der Stadt Düsseldorf für ihr Lebenswerk – als erste Preisträgerin. Die Idee einer Ausstellungskooperation zwischen Leipzig und Düsseldorf nahm Formen an, im Herbst 2022 zeigte der Kunstpalast Düsseldorf die erste umfassende Ausstellung zu Evelyn Richter im Westen Deutschlands. In Leipzig gab es die bereits 2005 – ein Meilenstein bei der Rezeption der Künstlerin. 2009 übertrug sie ihr Hauptwerk dem Evelyn Richter Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im MdbK. Bis zu ihrem Tod im Oktober 2021 wurde es um Dokumente, Bücher und Fotografien erweitert. Über 900 Motive standen so für die Ausstellung Evelyn Richter. Ein Fotografinnenleben zur Auswahl. Anhand von 250 Fotografien und Objekten wird deutlich, was es bedeutete, in der DDR als selbstständige Fotografin zu arbeiten.Placeholder image-1Nach einer Ausbildung zur Fotografin in Dresden arbeitete Richter dort im Labor an der Technischen Universität. Ihre Selbstinszenierung als dadaistisches Fantasiewesen aus dem Jahr 1952 zeigt zu Beginn des Rundgangs, dass sie mehr wollte. Während einer Kur auf Rügen fotografiert sie Fischer bei der Arbeit, Schiffe, eine Vogelscheuche. Die Fotos wandern in ihre Bewerbungsmappe für die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB), wo sie 1953 ein Studium der Fotografik beginnt.Ein ganzer Raum steht für den hohen Stellenwert, den die Schule dem Medium Fotobuch einräumte. Während einer Semesterarbeit zu Fachwerkarchitektur in Thüringen interessiert sich Richter jedoch schon mehr für die Menschen vor Ort – vor allem für Kinder.1955 wird sie exmatrikuliert, weil sie sich den strengen administrativen Vorgaben der HGB widersetzte. Fortan arbeitet sie freiberuflich am Theater, für Zeitungen und Zeitschriften und die Leipziger Messe. Auftragsarbeiten sind ein Weg, um unauffällig Motive zu finden und Zugang zu Betrieben und Fabriken zu erhalten. Freie Arbeiten oft „für die Kiste“. In den 1980er Jahren kehrt sie als Dozentin an die Leipziger Hochschule zurück, erhält später die Ehrenprofessur und lehrt bis 2001.Fotobücher boten Richter die Möglichkeit, ein Thema ausführlich und in seiner Vielschichtigkeit umzusetzen. Sie entwarf durchdachte Bildfolgen, in denen sich erzählerische Sequenzen mit ganz- oder doppelseitigen Einzelbildern abwechseln. Zwei Bücher stehen in Leipzig im Fokus: Vitrinen zeigen die Originale, ein Film ermöglicht es, sie indirekt durchzublättern. Abzüge an der Wand betonen die Qualität der einzelnen Motive. Allein Richters Konzept für das Buch Paul Dessau. Aus Gesprächen (1974) umfasst vier maschinengeschriebene Seiten und ihre genauen Vorstellungen zur Anordnung der Bilder. Über zwölf Jahre hatte sie den Komponisten und Dirigenten begleitet.Nur ein Jahr Zeit war für das Entwicklungswunder Mensch. Ein künstlerisches Fotobuch wie entwicklungspsychologisches Sachbuch von politischer Bedeutung, in dem etwa auch die Nachteile von Kinderkrippen erörtert werden. Die erste Auflage erschien 1980, die vierte 1989, insgesamt 100.000 Exemplare mit abnehmender Papierqualität. Richter fotografierte die Hälfte selbst und sprach Kolleg:innen und Studierende an – die wichtigsten Akteurinnen der DDR-Fotografie zu Beginn der 1980er sind hier versammelt. Charakteristisch für Richter: der mitgedruckte schwarze Negativrand, der belegt, dass es sich um den im Moment des Fotografierens gewählten Ausschnitt handelt.„Tätigkeit für Presse, Verlage und Ausstellungen, Reportage, Fotogestaltung, Vorträge, Lehrtätigkeit und Redaktion“ – so fasste Richter 1981 die Bandbreite ihres Schaffens zusammen. Das Bildermachen war inneres Bedürfnis wie harter Broterwerb. Ihre bislang wenig beachteten Auftragsarbeiten, die seit 1955 ihre berufliche Existenz sicherten, sind in einem weiteren Kapitel zu entdecken. Überraschend die Farbfotos, die sie im Rahmen von Reisereportagen für die Kulturzeitschrift Sibylle anfertigte. Eindrücklich die Porträts von Otto Dix 1964 bei der Arbeit an Lithografien in Dresden und die Aufnahmen von Gret Palucca aus den späten 1970ern, die sie als reife Tänzerin und Lehrerin zeigen. Die berufliche Existenz von Frauen, ihre Arbeits- und Ausbildungsbedingungen interessierten Richter zeit ihres Lebens.Heimlich auf den StraßenEin großer Tisch im Zentrum verdeutlicht ihren Lebensweg im Kontext des politischen Weltgeschehens: 1930 geboren, stand sie dem jungen Staat DDR hoffnungs- und erwartungsvoll gegenüber. Der Mauerbau – für sie ein Schock. Im August 1961 fotografierte sie in Berlin die Entstehung einer Skulptur ihrer Freundin Christa Sammler (geboren 1932) und dokumentierte heimlich, was auf den Straßen passierte. Ihre gemeinsame Freundin Eva Wagner, die Richter 1953 im Studium kennengelernt hatte, lebte schon seit 1954 im Westen. Noch 1958 trafen sie sich in Hamburg, fotografierten gemeinsam den Hafen und die Reeperbahn. Ihre Freundschaft hielt, selbst als Wagner mit ihrer Familie nach New York zog. Unter dem Titel Freundinnen wird das künstlerische Œuvre von Eva Wagner-Zimmermann (1928 – 2015) erstmals überhaupt präsentiert – eindrucksvolle Aufnahmen vom Alltag auf der Straße, in Mexiko, Paris und New York.Placeholder image-2Wie eng die Verbindung der Frauen ein Leben lang war, bestätigt eine der drei Töchter beim Presserundgang: Briefe wurden per Luftpost versandt, Pullover und Schokolade in die DDR geschickt. Später brachte Richter Abzüge bei der Freundin im Westen in Sicherheit – sogar ihr Reisepass der BRD aus den 1950ern war in deren Besitz und ist nun in Leipzig ausgestellt. Für Kuratorin Jeannette Stoschek ist dieser separate Teil im dritten Obergeschoss das Herz der Ausstellung, das nochmals deutlich macht, wie Frauen aus Richters Generation als Künstlerinnen tätig werden konnten. Zum Freundeskreis gehörte auch Ursula Arnold (1929 – 2012), die nach dem Studium an der HGB aus wirtschaftlichen Gründen den Beruf der Kamerafrau beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin ergriff und deren Archiv sich seit 2016 ebenfalls im Leipziger Museum befindet.Auch Richters professioneller Weg zeugt von grenzüberschreitenden Verbindungen, und es lohnt sich, diese im Sinn einer deutsch-deutschen Kunstgeschichte über 1989 hinaus noch genauer zu betrachten: 1955 besuchte sie die wegweisende Ausstellung The Family of Man in Westberlin. 1981 lernte sie Ute Eskildsen kennen, damals gerade Leiterin der Sammlung Fotografie am Museum Folkwang. In München fand 1984 Richters erste museale Einzelausstellung in der BRD statt. Sie darf nicht zum Aufbau fahren und schreibt dem Sammlungsleiter: „Deprimierend ist dabei für mich, die Hängung nicht selbst leiten zu können, zählt doch die Zuordnung der Fotografien für mich zu einer ebenso wichtigen Handlung, wie die Entscheidung über das Bild.“Richter ging es um eine Analyse gesellschaftlicher Zustände. Gestalterische Aspekte waren ihr dennoch wichtig. Noch 2010 bezeichnete sie sich als „gestaltende Dokumentaristin“. Ein Selbstbild, dem die Leipziger Ausstellung posthum mehr als gerecht wird.Placeholder infobox-1
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