Sofi Oksanen: „Putins Krieg gegen die Frauen“ – Über hundertzehn Stichwunden
Frauenhass Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen analysiert in ihrem Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ die Misogynie in Russland als stabilisierendes System
Sofi Oksanen versteht Frauenhass als Praxis der Veralltäglichung von Herrschaft
Foto: Paolo Pellegrin/Magnum Photos/Agentur Focus
Man hört jetzt häufiger von solchen Vorgängen in Russland: Die Studentin Vera Pechtelewa wollte an einem Januarabend vor vier Jahren ein paar Sachen aus der Wohnung ihres Ex-Freundes in Kemerowo holen, sie hatten sich getrennt. Die Stadt liegt im Kusnezker Kohlebecken, Koks wird hier produziert, es gibt chemische Industrie, Lebensmittel-Großbetriebe, über eine halbe Million Einwohner. Als Nachbarn Schreie aus der Wohnung hören, rufen sie die Polizei. Weil die nicht kommt, brechen die Nachbarn nach drei Stunden die Wohnung auf. Vera Pechtelewa ist tot, die Nachbarn finden den Ex-Freund neben ihr im Badezimmer, blutverschmiert. Er trinkt Wodka. Untersuchungen des Gerichts zählen über 110 Stichwunden, die er Pechtelewa zugefügt hat.
Die Polizisten i
lizisten in Kemerowo, die die Anrufe ignorierten, werden zu milden Bewährungsstrafen verurteilt. Der Ex-Freund von Vera Pechtelewa zu 17 Jahren Lagerhaft wegen „besonderer Grausamkeit“. Aus dem Straflager heuert er bei der Wagner-Miliz an, überlebt Kampfeinsätze in der Ukraine. Wie es das Gesetz will, wird er begnadigt. Zwei Jahre saß er wegen Mordes in Haft, heute ist er ein freier Mann.Aus dem Krieg gegen die Ukraine rufen Soldaten bei Müttern und Frauen an, öfter hört der ukrainische Geheimdienst mit, Roman Bykowski telefonierte vor zwei Jahren mit seiner Frau Olga. Beide stammen aus einem Dorf in der Nähe von Orel, nach der Besatzung durch die russischen Truppen 2014 waren sie auf die Krim gezogen. Roman Bykowski wurde Soldat, er kämpfte gegen Ukrainer, seine Mutter sieht ihn als Verteidiger des Vaterlandes, sie ist stolz. Olga und Roman sind noch keine dreißig Jahre alt, haben ein Kind. „Also mach mal“, sagt Olga Bykowskaya, „vergewaltige ukrainische Frauen, ja? Und erzähle mir nichts, ja?“ Sie lacht und hängt einen Satz an, der wohl darauf anspielen soll, Kondome zu nutzen: „Sei vorsichtig.“Konstantin Solowjow, russischer Soldat im Krieg gegen die Ukraine, bespricht mit seiner Mutter Tatjana Foltermethoden. Sie einigen sich, ein Eisenrohr in den After des Opfers, darin Stacheldraht, der im Körper bleibt, wenn man das Rohr herauszieht: „Ein vorzügliches Mittel.“ Konstantin Solowjow sagt, dass er gerne foltere. Seine Mutter antwortet, dass sie es wohl auch „genießen“ würde. Olga und Tatjana halten sich für Patriotinnen, Ukrainer sind für sie keine Menschen.Butscha: eine neue DimesionEntlang des Genozids in Ruanda und der Jugoslawienkriege haben Gerichte, wissenschaftliche Analysen und journalistische Recherchen deutlicher herausgearbeitet, wie Vergewaltigungen und Folter von Zivilist*innen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt werden. Inzwischen erleichtern digitale Quellen Ermittlungen – und zeigen, dass Russlands Krieg in der Ukraine eine neue Dimension bedeutet. Das Massaker von Butscha ist darin ein Markstein.Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen hält Misogynie für das Schmiermittel des politisch-kulturellen Systems Russlands – in ihrem Essay Putins Krieg gegen die Frauen sammelt sie Belege dafür, wie Wladimir Putin Voraussetzungen (politische Rhetorik, männliches Selbstverständnis, gewaltsame Kolonialisierung angrenzender Länder) von der Sowjetunion übernahm und kräftig brutalisierte: Straflosigkeit wurde ausgeweitet, Entmenschlichung allgegenwärtig. Das Zentrum-Peripherie-Verhältnis der Kolonialmacht war stets durch Gewalt und Erniedrigung geprägt, Darstellungen der Ukrainer*innen als Nazis oder Tiere öffnen eine weite Tür für enthemmte Gewalt. Mit Putins Kriegen konnte die sowjetische Saat bestens gedeihen.Sofi Oksanen beobachtet, wie Gewalt gegen Frauen strukturbildend für ein soziales Klima wurde. Denn Gleichberechtigung destabilisiert das Herrschaftssystem – Silowiki, Politiker, die in Geheimdiensten und Militär der UdSSR aufwuchsen und jetzt im russischen Apparat funktionieren, halten den Mythos lebendig, dass Sowjetunion und Russland nur Verteidigungs- und Befreiungskriege geführt hätten. Gegen Feminismus und Liberalität kämpfen sie mit dem Schwert angeblich traditioneller Werte, rechtlich sind Aktivist*innen „ausländische Agenten“.Oksanen versteht Frauenhass als Praxis der Veralltäglichung von Herrschaft: Misogynie wird „konsequent in der Innen- und Außenpolitik genutzt“, um Putins „Einfluss zu vergrößern, seine eigene Zentralmacht zu stützen und um das Projekt seines Imperialismus auszuweiten“.Damit sind Schwerpunkte ihrer essayistischen, aber auch literarischen Arbeit zusammengefasst. Sofi Oksanen, 1977 in Jyväskylä als Tochter einer Estin und eines Finnen geboren, hat in Romanen immer wieder Gewalt gegen Körper und Seele von Frauen thematisiert. Ihre Frauenfiguren erleben die Sowjetunion von den Rändern (Estland), wo das paternalistische Diktat noch kleinste Regungen des Alltags formt. Männern Macht über Frauenkörper gibt. Oder sie müssen auf den Straßen im Nachbarland (Finnland) mit den Stereotypen (alles Prostituierte) umgehen, die hier gewachsen sind.In etlichen Artikeln hat sie darauf hingewiesen, dass man in Geschichte und Gegenwart des Baltikums lebendige Beispiele für das theoretische Rüstzeug von Imperialismus und Kolonialismus findet. Und sich darüber geärgert, dass westeuropäische Politiker*innen für günstige Energielieferungen aus Russland so gerne wegschauten. Oder, dass westeuropäische Linke lieber mit den Schultern zucken, die hybriden Angriffe Russlands weitgehend ignorieren. In einem Nebenstrang zeichnet der Essay in wenigen Strichen deshalb auch eine Traditionslinie nach, die vom sowjetischen Geld für westdeutsche Friedensbewegungen, russischer Finanzierung rechtsradikaler Organisationen und Übergriffen zum verschwiemelten Schweigen über Angriffe auf Journalistinnen oder Aktivistinnen reicht. Antiamerikanismus macht es möglich: Vermeintliche Kritik am Kapitalismus paart sich mit arrogantem Desinteresse gegenüber den Erfahrungen baltischer Länder. Vermutlich ist es förderlich für Oksanens emotionalen Haushalt, dass die zuverlässig schrägen Rufe nach „Verhandlungen“ und „Gebietsabtretungen“ selten ins Finnische übersetzt werden. Der Westen, resümiert sie, habe nicht begriffen, „dass er sich in einem Krieg mit Russland befindet“.Im Zentrum des Essays steht etwas verschattet eine soziologische Annahme – dass Gewalt nicht so sehr Situationen entspringt und als irrationale Emotionalität gelesen werden sollte. Sondern, dass ihr System und Zweckrationalität zugrunde liege. Ziel dieser Gewalt ist es, Profite zu erwirtschaften, weshalb der Soziologe Georg Elwert von „Gewaltmärkten“ sprach. Diese würden geprägt von rational nachvollziehbarem ökonomischem Handeln, das langfristig stabile Grundmuster auspräge. Elwert hatte darin ein sich selbst stabilisierendes System erkannt – eine Erkenntnis, die es kaum nur in die deutsche Sozialdemokratie schaffte.Gewalt gebiert GewaltDiese Stabilisierung belegt Sofi Oksanen in der Gewalt gegen Frauen, deren Leben in Russland von geringem Wert seien. Sie zu erniedrigen, zu vergewaltigen oder zu ermorden ist dagegen eine Dynamik, die sich von Moskaus staatlichen Organen zu Polizeiwachen in Kemerowo streckt, die Fantasien von Soldaten in Kriegsgebieten der Ukraine befeuert: „Gewalt gebiert Gewalt, und deshalb hängen die schwache Gleichberechtigungssituation und die Geschehnisse in der Ukraine miteinander zusammen, und aus Forschungsmaterial zu früheren Kriegsverbrechen weiß man, dass jene, die in Konfliktgebieten Vergewaltigungen begehen, höchstwahrscheinlich aus Regionen kommen, in denen Gewalt allgemein akzeptiert wird und Frauenhass stark ist. Das Gleiche gilt für sexuelle Minderheiten. Je schwächer ihre Rechte sind, desto schwächer sind auch die Rechte der Frauen, und je schwächer die Frauenrechte, desto eher wird Gewalt gegen sie akzeptiert.“Sofi Oksanes Essay kauft sich an einigen Stellen mit etwas apodiktischem Klang Pauschalisierungen ein: Eine „russische Kultur“ anzunehmen, bedeutet, Kunst, Musik, Literatur, aber auch regionale Traditionen darauf zu reduzieren, was der russische Staat unter Kultur versteht, hat zuletzt Norma Schneider über aktuelle, sicher randständige Gegenkulturen herausgearbeitet (Punk statt Putin, Ventil 2023). Der Blick auf das große Ganze aber ergibt ein finsteres Bild.Vergangene Woche formulierte ein Mann hinter einem Mikrofon eine inständige Bitte: Fragt die Ukraine nicht, wann der Krieg enden wird. Fragt euch stattdessen selbst, warum Putin in der Lage ist, ihn weiterzuführen. Sofi Oksanens Essay arbeitet gegen die Ignoranz, die auch in Deutschland lange komfortabel schien. Der Mann mit dem Mikrofon war Wolodymyr Selenskyj.Placeholder infobox-1
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