Vom Bolschoi bis in die Provinz: Wie der russische Staat die Theaterlandschaft umbaut
Kulturpolitik Das Bolschoi-Theater und der russische Theaterverband werden jetzt von Vertrauten Putins geleitet, zahllose Kulturschaffende sind emigriert. Unsere Autorin erlebt, was das für die Theaterszene in Russland bedeutet
Wladimir Maschkow ist der neue Vorsitzende des Theaterverbandes. Er war der einzige Kandidat
Foto: Mikhail Snitsyn/Tass/Imago Images
Während das zweite Kriegsjahr zu Ende geht, verändert sich die kulturelle Realität in Russland unerbittlich weiter. Die Stimmen derer, die „gegangen“ sind, werden immer leiser, für die „Verbliebenen“ gibt es kaum noch unabhängige Spielstätten und die Staatstheater verlegen sich eilig auf „sichere“ Klassiker. Die Lücken in den Spielplänen der Repertoiretheater sind jedoch nicht mehr so ärgerlich wie 2022 und die Säle erstaunlich voll. Die russischen Zuschauer scheinen zu verstehen, dass geteilte Theatererfahrungen die letzte Form bürgerlicher Solidarität sind, die ihnen noch zur Verfügung stehen.
Unter Theaterschaffenden ist die Stimmung weniger optimistisch: Der Staub hat sich nach der Katas
der Katastrophe des 24. Februar 2022 gelegt, aber sobald die Überlebenden auf den Trümmern standen, begann man, sie methodisch in den Asphalt zu walzen. Das Ziel des Staates ist klar: den öffentlichen Raum so weit wie möglich einzufrieren, die großen Namen des „früheren Lebens“ zu tilgen und kein Schlupfloch für Rebellion zu lassen. Wie das konkret aussieht?Es gibt nach wie vor schwarze Listen für Regisseure und Autoren. Eine der jüngsten Ergänzungen war im Dezember der in London lebende Bestsellerautor Boris Akunin, der auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt wurde. Inszenierungen nach seinen Büchern liefen 20 Jahre lang stets ausverkauft im Russischen Akademischen Jugendtheater (RAMT) nahe des Roten Platzes in Moskau. Sie mussten jetzt schnell abgesetzt werden. Die Regisseurin Ewgenia Berkowitsch und die Dramaturgin Swetlana Petrijtschuk, die dort Finist – Heller Falke inszeniert hatten, sind seit Mai 2023 in Haft, gegen sie wird wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ ermittelt.Ein neuer Leiter am BolschoiDie Kulturbehörden in Moskau und St. Petersburg führten sehr unmittelbar eine „Säuberungsaktion“ durch, aber die Welle hat inzwischen auch die Regionen erfasst. Am 26. Oktober 2023 trat der Regisseur Roman Feodori als künstlerischer Leiter des Jugendtheaters im sibirischen Krasnojarsk zurück, an dem er seit 2011 tätig war. „Wir danken Roman für die Renaissance, die unser Theater erlebt hat ... Unglaubliche Kindermärchen, kraftvolle, therapeutische Inszenierungen sozialer Stoffe für Jugendliche und Erwachsene – dafür ist das Jugendtheater im ganzen Land berühmt geworden“, heißt es auf der Website des Theaters. Feodori wurde denunziert. Elena Penzina, Abgeordnete der Gesetzgebenden Versammlung der Region Krasnojarsk, hatte in ihrem Telegramkanal zunächst das Kulturministerium darauf aufmerksam gemacht, dass Feodori in Tel Aviv eine Lesung von Artur Solomonows Stück Wie wir Josef Stalin beerdigten mit den Künstlern Anatoli Bely und Michail Schaz (beide „ausländische Agenten“) veranstaltete. Nach Feodoris Demission schrieb sie, sie danke Krasnojarsks Kulturminister Arkadij Sinow „für seine prinzipientreue Haltung“. Sie behauptete auch, Feodori habe seit Langem im Ausland gelebt und am Theater nicht gearbeitet, dabei veranstaltete er dort 2023 unter anderem das Jugendtheaterfestival „Sprache der Welt“. Aber jetzt hat Roman Feodori Russland wirklich verlassen.Im zentralrussischen Woronesch wurde am 21. November der Gründer und künstlerische Leiter des Woronescher Kammertheaters, Michail Bytschkow, auf Beschluss des regionalen Kulturministeriums entlassen. Die Kulturministerin der Region, Maria Mazur, begründete Bytschkows Entlassung so: „... um ehrlich zu sein, wurden die Verhandlungen mit dem ehemaligen Intendanten seit Februar 2022 geführt. Als Leiter des staatlichen Theaters hat er sich gegen die Politik der Russischen Föderation ausgesprochen, für die er mehr als 20 Jahre lang gearbeitet und mit deren Mitteln er das Kammertheater und verschiedene Festivals aufgebaut hat. Er fand nicht die Kraft, seinen Irrtum einzugestehen, sich zu entschuldigen und seine Haltung zu den Ereignissen zu ändern, die buchstäblich 300 Kilometer von Woronesch entfernt stattfanden. In dieser Zeit schickten die Behörden der Stadt und die Einwohner Hilfsgüter im Wert von Milliarden Rubel an die Front, unsere Soldaten ließen Hunderte von Leben für die Freiheit Russlands, in unseren Nachbarregionen starben Dutzende von Zivilisten durch Angriffe aus der Ukraine, aber die Meinung des künstlerischen Leiters änderte sich nicht. Er lebte in einer Welt ohne militärische Spezialoperation.“Bytschkow antwortete mit einer Ansprache vor seiner Belegschaft: „Diese politische Entscheidung ist eine Strafe für abweichende Meinungen ... Am 24. Februar 2022 habe ich mit anderen russischen Theaterschaffenden einen Brief unterschrieben, der dazu aufrief, die Militäraktionen zu stoppen ... inzwischen haben drei Viertel der Unterzeichner ihren Job verloren. Mein Fehler ist, dass ich nicht verhehle, dass ich mit dem Handeln des russischen Staats nicht einverstanden bin.“Man muss wissen, dass Bytschkow nicht vom Kulturministerium ans Kammertheater geholt worden war; er baute es aus einem Studio heraus selbst auf, machte es zu einem Haus von nationalem Rang. Ende Dezember wurde ein neuer künstlerischer Leiter vorgestellt, Sergej Karpow, Rektor der Staatlichen Kunstakademie Woronesch – eine Person von ganz anderem Format. Bytschkow bleibt an seinem Theater vorerst als „einfacher Direktor“; unter ähnlichen Bedingungen bleibt etwa Andrej Mogutschi, der auch den offenen Brief unterzeichnet hat, am Bolschoi-Theater in St. Petersburg, dessen künstlerischer Leiter er seit 2013 war. Nach dem Motto: „Sie sind nicht mehr der Leiter, aber die Möglichkeit zu arbeiten wurde Ihnen nicht genommen.“ Dem Zeitgeist gemäß werden alle Institutionen jetzt von gehorsamen „No-Names“ geleitet oder von einer Person, die als durch und durch loyal bekannt ist – wie es beim Bolschoi-Theater der Fall ist.Zum Generaldirektor des Bolschoi wurde am 1. Dezember der Dirigent Waleri Gergijew ernannt. Er löste Wladimir Urin ab, der diesen Posten seit zehn Jahren innehatte.Auch Urin hatte im Februar 2022 einen offenen Brief gegen den Ukrainekrieg unterzeichnet. Gergijew, ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin, leitet bereits mehrere große Häuser in verschiedenen Teilen des Landes: das mehrspartige Mariinski-Theater in St. Petersburg, eine Filiale in Wladiwostok und zwei in Wladikawkas. Legenden besagen, er habe übermenschliche Arbeitsfähigkeiten. Es ist aber offensichtlich, dass das Bolschoi-Theater für lange Zeit kein eigenes Gesicht mehr haben wird.Ebenfalls Anfang Dezember wurde der neue Vorsitzende des Theaterverbandes gewählt – der 60-jährige Künstler Wladimir Maschkow löste den 81-jährigen Künstler Alexander Kaljagin ab. Zu dem außerordentlichen Kongress waren die Abteilungsleiter aus allen 77 Regionen gekommen – die meisten von ihnen Männer, Schauspieler und im Rentenalter. Maschkow war der einzige Kandidat. Kaljagin hat in den vergangenen Jahren viel auf Wunsch von „oben“ getan – so hat er das Theaterfestival Goldene Maske und das Magazin Teatr „übergeben“, das die bekannte Theaterkritikerin Marina Dawydowa herausgab, die inzwischen Emigrantin ist und 2024 die Salzburger Festspiele leitet. Doch die Regierung braucht einen Verantwortlichen, der absolut loyal ist. Maschkow unterstützt offen die „militärische Spezialoperation“: Im Februar 2022 war er der erste, der ein Banner mit dem „Z“ an die Fassade des Tabakow-Theaters in Moskau hängte, dessen künstlerischer Leiter er war.Placeholder image-1Maschkow nahm (unter anderem neben Gergijew) am 16. Dezember im Moskauer Konzertsaal Sarjadje an einem Treffen einer Gruppe von Wählern teil, die Putin als Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation für eine neue Amtszeit nominieren wollen. Er ist ein Vertrauter Putins, über den er sagt: „Er ist die Essenz unserer russischen Natur, genau wie die Menschen, die ihn unterstützen. Der Westen ist mit Sodom und Gomorra zu vergleichen.“ In seinem neuen Amt verspricht Maschkow, „bestimmte Theaterfestivals und -preise neu aufzustellen“, „das Vertrauen des Staates zurückzugewinnen, das sie verloren haben“ und den Theaterverband in „neue Bereiche“ zu integrieren. Die Kosten für die Durchführung des Kongresses übernahm übrigens die Präsidialverwaltung – ein hohes Maß an Zuwendung für eine arme Künstlervereinigung!Wer ist dieser Theaterverband? Generell sind die Gewerkschaften ein Erbe der Sowjetzeit, nach 1934 mussten alle Schriftsteller, Künstler, Komponisten und Filmemacher staatlich kontrollierten Verbänden angehören. Der Theaterverband aber war aus einer Treuhandgesellschaft im 19. Jahrhundert entstanden – und blieb eine „Gesellschaft“. Zu Sowjetzeiten verfügte er über eine eigene finanzielle Basis – Theaterkosmetikfabriken; die Einnahmen ermöglichten es, Ableger im ganzen Land zu unterhalten, und Kritiker aus Moskau besuchten die Theater in der Provinz. So kamen neue Ideen, Stücke und interessante Regisseure in die Provinz und die Theater aus der Provinz nach Moskau. In den 1990ern verlor der Verband seine finanzielle Unabhängigkeit und den größten Teil seiner Immobilien (eine schmutzige Geschichte). Seine Eigenmittel wurden durch dürftige staatliche Subventionen ersetzt und das veränderte die Lage. Mitte der 2000er-Jahre tauchten junge Manager (und das Internet) in den Büros des in die Jahre gekommenen Verbands auf und das Leben kehrte zurück: Künstlerresidenzen, Seminare, Sommerschulen, Labore, Kritikerreisen. Was unter der neuen Führung aus ihm werden wird, lässt sich nur erahnen.Irritierend sind auch die jüngsten Entwicklungen beim Theaterfestival Goldene Maske. Am 18. Dezember wurde eine neue Regelung öffentlich gemacht, mit der die Unabhängigkeit des Expertenrats faktisch abgeschafft wurde. Er besteht aus Kritikern, die sich das Jahr über Inszenierungen im ganzen Land ansehen und bisher die Auswahl trafen. Die endgültige Entscheidung über die Liste der Nominierten liegt fortan beim Vorsitzenden des Theaterverbands und beim Direktorium des Festivals. Außerdem wurde bekannt, dass der neue Direktor Wladimir Mischarin von den aktuell nominierten Theatern verlangt hat, ihm Aufnahmen ihrer Aufführungen zu senden, damit er die Arbeit der Experten überprüfen kann. Auffällig ist auch, dass die Termine für das Festival und die Preisverleihung 2024 noch nicht bekannt gegeben wurden; normalerweise fanden sie im März und April statt – aber wir wissen ja, dass diesen März eine andere wichtige Performance in Russland ansteht. Die Goldene Maske hat seit vielen Jahren ein System der Unterstützung und gemeinsame Anlaufstellen geschaffen. Die Architektur der Theaterszene basierte auf ihm. Daraus wurden zunächst wichtige Namen entfernt, die tragende Elemente waren. Nun wird das Festival insgesamt zerstört. Wir dachten, wir wüssten durch die Erfahrung der Sowjetzeit, wie man ein Gespräch im Flüsterton führt; aber was kann man unter dem Asphalt hören?
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