Über ein "gegenwärtiges Zeitalter" – nebst "Zeitenwende"

Essay Eine zweite Vorrede zu Johann Gottlieb Fichtes "Grundzügen"

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Die erste lautete:

Die eigentliche Absicht und der letzte Zweck der folgenden Vorlesungen spricht, wie ich glaube, sich selbst hinlänglich aus; und sollte sich doch jemand finden, der eines deutlicheren Fingerzeigs bedürfte, so rate ich diesem, die siebzehnte Vorlesung als eine Vorrede anzusehen. Ebenso muss die Entschließung zum Abdrucke und zur Mitteilung an ein größeres Publikum selbst für sich sprechen; und, falls sie dies nicht tut, ist alle andere Fürsprache verloren. Ich habe darum bei der Herausgabe dieser Schrift dem Publikum nichts weiter zu sagen, als dass ich ihm nichts zu sagen habe.
Berlin, im März 1806

Fichte dachte, der Titel seiner 17-teiligen Vorlesung "Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" verstehe sich von selbst. Demnach bedurfte sie weder einer längeren Vorrede noch einer detaillierten Gliederung, um eine "ehrwürdige" Zuhörerschaft anzusprechen. Er gedachte also in medias res zu beginnen.

Doch wie ist Fichtes Rede von einem "gegenwärtigen Zeitalter" und dessen "Grundzügen" zu beurteilen? Wie lange dauert ein Zeitalter und wie lange schon gibt es das gegenwärtige? Der gegenwärtige deutsche Bundeskanzler Scholz begann am 27. Februar eine Regierungserklärung mit den Worten: "Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents." An diesem Tag begann, wenn es stimmt, was Scholz sagte, in Europa ein neues Zeitalter; denn Zeiten im Zusammenhang von Zeitenwenden pflegen weithin als Zeitalter oder etwa auch Epochen bezeichnet zu werden.

Während das gegenwärtige europäische Zeitalter mit dem "Angriffskrieg Putins" gegen die Ukraine begonnen haben soll, könnte seinerzeit Fichte die französisch-revolutionären und napoleonischen Kriege in Europa – seit den 1790er Jahren – als Hauptmerkmale des "gegenwärtigen Zeitalters" verstanden haben. Im März 1806, als er das kurze Vorwort zu den "Grundzügen" niederschrieb, währte das deutschnationale "Heilige Römische Reich" gerade noch fünf Monate, was Fichte zwar kaum voraussehen konnte, was aber auch bloß ein späterer von mehreren Umständen der "Zeitenwende" war, die nachträglich auf den 14. Juli 1789, den Pariser Sturm auf die Bastille, datiert wurde. Mit dem "gegenwärtigen" könnte also in den "Grundzügen" das die feudalen Lebensverhältnisse weitgehend ablösende 'bürgerliche Zeitalter' gemeint gewesen sein.

Freilich dürfte Fichte als Philosoph zumindest ebenso sehr die "geistige Situation" seiner Zeit interessiert haben (um auf eine knapp 130 Jahre später geschriebene Abhandlung von Karl Jaspers anzuspielen: "Die geistige Situation der Zeit").

Wie auch immer er sein Thema ausführte: es handelte sich um eine geschichtsphilosophische Problemstellung. Wer nach "Grundzügen" eines "Zeitalters" fragt, ist doppelt in einer Sinnproblematik befangen. Er will sich weder als Chronist noch als kritischer Beobachter des aktuellen Zeitgeschehens betätigen, sondern von diesem hochgradig abstrahieren – bis zu einer solchen Höhe, dass er zu einem 'überzeitlichen Reim auf das Ganze' dessen gelangt, was sich je gegenwärtig tut. "Was soll das alles?", ist die Frage statt "Was ist hier los?" Ein Geschichtsphilosoph will letzte Antworten geben und sich nicht mit dem Stand der Dinge bescheiden, weder als "neutraler" noch "parteiischer" geschweige als fundiert urteilender Beobachter. Denn auch "Grund"-Züge sind aus geschichts- und überhaupt philosophischer Sicht keine kritischen Resultate rationaler Überlegungen, sondern Sinnkonstruktionen, die es auf das Rechtfertigen alles noch so misslichen Geschehens absehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Leo Allmann

M.A. Philosophie

Lesefreudiges Nachkriegskind

Leo Allmann

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